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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen
Autoren: Ricardo Coler
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Bewirtschaftung der Finca noch bei jemand anderem in Lohn und Brot zu stehen. Jetzt
     habe er nur noch die eine Aufgabe, nämlich sich um seine Plantage zu kümmern, und das mache er jeden Morgen von sechs Uhr
     bis zum Nachmittag.
    »Sechs Uhr? Das ist neu«, erklärt die Ururenkelin. »Bis zum vergangenen Jahr musste ich ihn einsperren. Um drei Uhr morgens
     stand er bei mir vor der Tür, weckte mich und bat, ich solle ihm Kaffee machen. Er wollte unbedingt in aller Herrgottsfrühe
     aufbrechen.«
    »Trinken Sie viel Kaffee?«, erkundige ich mich.
    »Jeden Tag.«
    »Und was essen Sie?«
    Auf diese Frage antwortet seine Ururenkelin. »Gemüse, Fisch, Obst. Viel Obst.«
    Man merkt gleich, dass sie ihren Ururgroßvater sehr liebt. Sie weiß genau, was er tut, was er am liebsten isst und was er
     den Tag über braucht. Immer wieder streichelt sie ihm über den Kopf. Doch ich werde das Gefühl nicht los, dass wir den alten
     Mann alle wie ein struppiges Haustier behandeln, |58| wie ein liebenswertes, witziges und ein wenig schrulliges Wesen. Bestenfalls wie ein kleines Kind. Víctor, dem die Hundertjährigen
     in Vilcabamba großen Respekt entgegenbringen, will Manuel, wie er es zuvor auch bei José versucht hat, dazu überreden, ein
     Gedicht vorzutragen oder ein Lied zu singen, als ich meine Videokamera hervorhole.
    Die Ururenkelin hat ihre Theorie, warum Don Manuel so alt geworden und dabei so rüstig geblieben ist. Die Ernährung, sagt
     sie, was sonst. Alles hier sei natürlich angebaut, ohne Pestizide. Bei den Picoita, erklärt sie stolz, werden auf den Tellern
     neben der Hauptspeise zwanzig, dreißig oder vierzig Jahre mehr Leben gereicht. Sie lächelt, und Manuel glaubt ihr.
    Keine Pestizide, dafür reichlich Zucker, Fett und Proteine, Chamico und Puro sowie eine ordentliche Portion Salz, mit der
     praktisch jede Speise in Vilcabamba nachgewürzt wird – die Internationale Gesellschaft für Kardiologie und die Gesellschaft
     gegen Bluthochdruck würden vehement ihr Veto einlegen.
    Ich setze mich zu Don Manuel und bitte ihn, für ein letztes Foto die Kappe abzunehmen.
    »Ich habe ihm heute das Haar geschnitten«, sagt die Ururenkelin. »Hier, sehen Sie, da war alles grau. Jetzt ist es wieder
     schwarz.«

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    |59| 12
    Ich bitte Lenin anzuhalten. Wir befinden uns am Anfang der Hauptstraße von Vilcabamba, sie heißt »Avenida de la Eterna Juventud«,
     »Allee der ewigen Jugend«.
    »Ich steige hier aus und gehe zu Fuß weiter«, sage ich, »wir sehen uns dann morgen.«
    Lenin winkt fröhlich und fährt weiter.
    Seufzend sehe ich mich nach einem Café oder einer Bar um. Ich muss eine Entscheidung treffen.
    Als ich letzte Nacht ins Bad kam, entdeckte ich einen Skorpion. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Nach dem ersten Schreck
     ließ der zweite nicht lange auf sich warten: Ein Skorpion im Zimmer, um Himmels willen, dann fängt gleich bestimmt wieder
     die Erde an zu beben! Vorsichtshalber stützte ich mich schon mal mit beiden Armen im Türrahmen ab und wartete. Wartete, dass
     die Welt über mir einstürzte. Bis mir einfiel, dass es in dem Fall vielleicht klüger wäre, mich ins Freie zu begeben, wo ich
     kein Dach über dem Kopf hatte. |60| Lange starrte ich in den romantischen Nachthimmel mit seinem Sternenensemble. Nichts geschah, die Erde regte sich nicht.
    Da hatte sich einfach ein Skorpion in mein Bad verirrt, das war alles. Ich kehrte in mein Zimmer zurück, drehte das Radio
     auf volle Lautstärke und tat, was getan werden musste. Erst dann konnte ich in Ruhe schlafen. Als ich am nächsten Tag aufwachte,
     kam mir ein Dokumentarfilm über Skorpione in den Sinn, den ich vor längerer Zeit zufällig beim Zappen durch die Programme
     erwischt hatte. Ich erinnere mich kaum mehr an Details, aber das ist mir im Gedächtnis geblieben: Die giftigen Arten leben
     monogam. Und plötzlich war ich mir ganz sicher, dass irgendwo in meinem Zimmer ein Witwer oder eine Witwe saß, dem oder der
     ich in der letzten Nacht den Partner genommen hatte.
    Ich verlasse die Avenida und biege in eine Seitenstraße ein. Die Plaza de la Madre ist nicht mehr weit entfernt. Dort kenne
     ich inzwischen eine Bar mit dem Namen El Punto. Bestimmt ein guter Ort, um nachzudenken.
    Ich suche mir ein schattiges Plätzchen. Am Nachbartisch fertigen drei Hippies aus einer nahegelegenen Kommune ihr Kunsthandwerk.
     Nur wenige Meter links von mir setzt sich der Schamane des Dorfes auf den Bürgersteig und stimmt |61| sich offenbar auf
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