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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen
Autoren: Ricardo Coler
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im Begriff, ins Bett zu gehen und sich schon bis zum nächsten Morgen zu verabschieden. Es ist mir unangenehm, doch sie besteht
     darauf, uns zu empfangen.
    Obwohl das Klima in Vilcabamba mild ist und es keine großen Temperaturschwankungen über das Jahr gibt, frieren die alten Menschen.
     Doña Josefa hilft dem ab, indem sie sich winterlich bekleidet – |66| mit blauweißer Wollmütze, T-Shirt, Hemd und Pullover – und sich zeitig ins Bett begibt.
    Sie ist das Musterbeispiel einer liebenswerten alten Oma. Sie ist nahezu blind und taub und stellt keinerlei Ansprüche. Ihre
     Enkel erzählen, früher sei sie einmal eine große Frau gewesen, aber mit der Zeit sei sie immer mehr geschrumpft.
    »Wie geht es deiner Familie? Sind alle wohlauf?«, fragt sie mich.
    »Ja, Doña Josefa.«
    »Gott sei Dank.«
    Die meisten ihrer fünfzig Enkel, zwanzig Urenkel und zehn Ururenkel kennt sie nicht persönlich, oder sie hat sie höchstens
     ein, zwei Mal gesehen.
    »Meine Familie lebt weit verstreut«, sagt sie.
    Lenin lenkt das Gespräch sogleich auf ihre Ernährungsgewohnheiten. Er scheint durch die Ausländer programmiert zu sein, die
     nach Vilcabamba kommen und von dem Thema förmlich besessen sind.
    Die Touristen kommen mit der Überzeugung in das Dorf, nicht nur die Liebe, sondern auch die Lebenserwartung ginge durch den
     Magen, und wenn man auf seine Ernährung achte, bliebe man nicht nur in Form, sondern man würde auch nicht so schnell krank.
     Der Gedanke ist so übermächtig, |67| dass es ihnen inzwischen gelungen ist, sogar die Bewohner des Tales davon zu überzeugen, es läge an der gesunden Ernährung,
     dass sie so alt werden. An dem einzigartigen Obst und Gemüse, das es nirgendwo sonst auf der Welt gibt.
    »Yuccas, Mote, Bananen. Alles Mögliche.«
    Sicher, die Ernährung mag gesund sein, aber dass es sich um besondere, ausschließlich hier vorkommende Nahrungsmittel handelt,
     ist ein Ammenmärchen.
    Was soll man noch fragen? Víctor schlägt vor, sie solle »Flores negras« singen, ein Liebeslied. Doña Josefa erinnert sich
     nicht. Aber sie rezitiert ein Gedicht aus der Zeit des Krieges mit Peru. Von einem jungen Mann, der sein Elternhaus verlässt,
     um an die Front zu gehen, »ein Freiwilliger, der aus dem Grabe nicht wiederkehrt«. Gerührt erinnert sie sich an ihren Hund.
     Asco hieß er. Ein hinterlistiger Taugenichts und dennoch ein treuer Gefährte.
    Wenn Doña Josefa etwas erzählt, dann immer in der Vergangenheit und gefolgt von einem »jetzt nicht mehr«. Früher habe sie
     gesungen, aber jetzt nicht mehr, sie sei verheiratet gewesen, aber jetzt nicht mehr, sie habe mit ihrem Vater zusammen gearbeitet,
     aber jetzt nicht mehr, sie habe sich um das Haus gekümmert, aber jetzt nicht mehr. Man hat |68| den Eindruck, sie sitzt nur noch da und wartet, Hauptsache, sie friert nicht.
    Wie sonst auch, unterhalte ich mich noch ein wenig mit der Familie. Eine Frage brennt mir immer auf der Zunge: Wie stirbt
     man in Vilcabamba? Gibt es ein Ritual? Ich bitte meine Interviewpartner, mir von anderen alten Menschen zu berichten, die
     sie kannten.
    In Vilcabamba lebt man nicht nur länger, man stirbt auch anders. Sie sterben, während sie ein Bad nehmen, bei der Arbeit,
     oder sie wachen eines Morgens einfach nicht mehr auf. Ohne Vorankündigung, ohne Siechtum, es gibt keinen Streit, wer die Pflege
     übernimmt, keine Kinder, die protestieren, wenn sie sich um ihre Eltern kümmern müssen. Die alten Menschen in Vilcabamba kommen
     nicht in diese Phase, in der man sich fragt, ob das Leben wirklich noch lebenswert ist. Ob man, wenn man nur noch leidender
     Körper ist, noch derselbe Mensch ist wie zuvor.
    Bis zuletzt führen die Alten in diesem Tal ein selbstbestimmtes Leben. Und dann kommt der Tod. Sie werden nicht krank, sie
     erlöschen wie eine Kerze. Die Menschen hier sind einfache Bauern, doch ihr Sterben erscheint mir beinahe aristokratisch.
     
    |69| Im Speisesaal von Madre Tierra bestelle ich mir einen Kräutertee, das wird mir jetzt guttun. Ich habe mein Notizbuch dabei,
     will nachdenken und ein paar Dinge aufschreiben. Ich musste das Zimmer verlassen, ich habe soeben einen trauernden Skorpion
     getötet.
    Mir kommt in den Sinn, dass ich die Gelegenheit habe verstreichen lassen, mich zu informieren, wie eine Paarbeziehung aussieht,
     die man über so lange Jahre führt … Die Skorpione bleiben ihr Leben lang zusammen, gehen überall gemeinsam hin. Deshalb schlich
     der hinterbliebene auch noch in der
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