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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen
Autoren: Ricardo Coler
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die Nachmittagshitze ein. Ich starre geradeaus vor mich hin. Auf der gegenüberliegenden Seite der Plaza
     steht die im Kolonialstil erbaute Kirche von Vilcabamba.
    Doch das wahre Objekt meiner Begierde befindet sich um die Ecke, im dritten Regal rechts in der Apotheke: eine bunte Sprayflasche
     mit hellgrünem Deckel und der Aufschrift »Pix«. Ein Insektizid, das angeblich gegen alles wirkt, was kreucht und fleucht.
     Ich könnte endlich wieder ruhig schlafen, und vielleicht das Geheimnis des langen Lebens an diesem Ort entschlüsseln. Aber
     plötzlich nagen Gewissensbisse an mir: Werde ich ruhig schlafen können, wohl wissend, dass ich die Natur mit einem Giftspray
     aus dem Gleichgewicht gebracht habe?
    Wahrlich keine leichte Entscheidung. An diesem Ort schon gar nicht.

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    »Verzeihen Sie die Störung, der Arzt möchte Sie sprechen.« Es ist die Frau, die meine Eltern betreut.
    Der Notarzt berichtet mir, dass mein Vater bewusstlos gewesen sei.
    »Sollen wir ihn ins Krankenhaus bringen?«
    Nun stehe ich also wirklich vor einer schweren Entscheidung. Höre ich auf die Stimme der Vernunft und mache der unerträglichen
     Situation ein Ende? Aber damit würde ich hier und jetzt das Todesurteil über meinen Vater fällen. Ich kann es nicht.
    »Bringen Sie ihn ins Krankenhaus, bitte.«
    Es ist das fünfte oder sechste Mal, dass ich über Leben oder Tod meines Vaters befinden muss. An das erste Mal erinnere ich
     mich, als wäre es gestern gewesen. Damals hatte mich der Nephrologe einbestellt, um mit mir über den Gesundheitszustand meines
     Vaters zu sprechen.
    Mein Vater war eine halbe Stunde vor mir im |63| Krankenhaus eingetroffen, es tat mir weh zu sehen, wie er in diesem Wartezimmer kauerte, das kalt und steril wie ein Waschraum
     war.
    »Hallo, Papa.«
    »Hallo.«
    Mein Vater zeigte kaum eine Regung, und auch wenn das einerseits eine Erleichterung war, machte ich mir doch Sorgen. Ich gab
     der Stationsschwester Bescheid, dass ich jetzt da sei.
    Das beeindruckte sie wenig. »Sie müssen warten.«
    Während wir also warteten – eine gefühlte Ewigkeit –, versuchte ich, meinem Vater die medizinischen Zusammenhänge zu erklären,
     ihm die Angst zu nehmen, ohne dass er den Eindruck bekam, ich würde die Dinge verharmlosen oder etwas vor ihm verbergen.
    Der Arzt untersuchte ihn, dann bat er mich um ein Vieraugengespräch. Wenn ich mich für die Dialyse entschied, sagte er, könnte
     mein Vater noch ein paar Jahre leben. Allerdings wäre er fortan abhängig von dem Gerät, mit all den Komplikationen, die das
     mit sich bringt: Katheter, Entzündungen, Anämie. Dreimal in der Woche müsste er für fünf Stunden angeschlossen werden. Sollte
     ich mich gegen diese Maßnahme entscheiden, wäre die Zeit kürzer, doch ihm blieben all die Unannehmlichkeiten |64| erspart. Wortreich verschleierte er, was man nicht aussprechen will.
    Eigentlich hätte mein Vater die Entscheidung treffen müssen. Aber ihn brauchte ich gar nicht erst zu fragen. In solchen Situationen
     gab er mir immer dieselbe Antwort: Mach es so, wie du es für richtig hältst. Jahrelang habe ich mich dagegen gesträubt und
     aufbegehrt, ich wollte nicht, dass man mir als Sohn den Schwarzen Peter zuschob. Aber am Ende habe ich mich geschlagen gegeben.
    Ich entschied mich für die Dialyse.
    Abends besuchte ich in Begleitung der Frau, die ich liebe, eine Party. Immer wieder kam das Gespräch auf die Unterredung mit
     dem Arzt. Ich fing an, alberne Antworten zu geben, etwa dass alles bestens sei, er müsse künftig nur auf Fußball, Basketball
     und Rugby verzichten. Als meine Kommentare immer abstruser wurden, spürte ich auf einmal eine Hand auf meinem Rücken.
    »Man merkt, dass du ihn liebst«, sagte meine Begleiterin sanft.
    »Ich? Meinen Vater?«
    »Ja.«
    Dann hakte sie sich unter und meinte, es sei Zeit, nach Hause zu gehen.

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    In Vilcabamba gibt es mehr Frauen als Männer – fast überall sonst auf diesem Planeten ist es umgekehrt. Das Verhältnis beträgt
     drei zu zwei. Über einhundertunddreißig Jahre alt sind bis jetzt allerdings nur Männer geworden. Doch auch die Frauen des
     Tals beeindrucken mit Zahlen: Sie bringen mit über fünfzig noch Kinder zur Welt, und es gibt angeblich sogar Fälle von Müttern,
     die bereits die sechzig überschritten hatten, als sie entbunden wurden.
    Doña Josefa Ocampo ist einhundertfünf Jahre alt. Es ist etwa vier Uhr nachmittags, als ich bei ihr eintreffe – sie war gerade
    
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