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Das Tagebuch der Eleanor Druse

Das Tagebuch der Eleanor Druse

Titel: Das Tagebuch der Eleanor Druse
Autoren: Stephen King
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suizidgefährdeten Patienten besaß. Allerdings sagte mir mein gesunder Menschenverstand, dass Madeline wohl nicht gerade begeistert darüber sein würde, dass sie ihr kurzes Tête-à-tête mit dem Tod überlebt hatte. Sie würde mit dem Gefühl aufwachen, dass sie auch bei der allerletzten Aufgabe ihres Lebens versagt hatte und sogar im Scheitern gescheitert war. Ansonsten hatte ich keine Ahnung, was mich erwartete oder was ich tun und sagen sollte.
    Laurel Werling meinte, ich solle Madeline einfach zuhören und sie reden lassen. Vielleicht brachte sie, wie das bei vielen Menschen nach einem missglückten Selbstmordversuch der Fall war, Wut oder Enttäuschung über ihre Familie zum Ausdruck. Vielleicht könnte ich ja daran anknüpfen und erfahren, wo sich ihre Kinder aufhielten.
    Die Schwester führte mich durch den Korridor, in dem vorhin der seltsame Alte in seinem Flügelhemd aufgetaucht war. Jetzt sah ich ihn im Fernsehraum am Ende des Flurs, wo eine Wiederholung von Happy Days flimmerte. Im bläulichen Licht des Fernsehschirms suchte das kahlköpfige Klappergerüst in den Aschenbechern offenbar nach nicht zu Ende gerauchten Kippen.
    Unsere Schritte hallten auf dem Marmorfußboden, aber der Alte machte sich nicht mal die Mühe aufzusehen. 
    An den Wänden des Ganges gab es viele massive Türen, von denen einige geschlossen waren, andere offen standen und in dunkle Zimmer führten.
    Vor einer der offenen Türen etwa in der Mitte des Flurs saß ein unrasierter Mann mittleren Alters in einem Lehnsessel. Er trug eine Krankenpflegeruniform wie Bobby, und auf einem Tischchen neben ihm stand eine Dose Nozz-A-La-Cola. In seinem Schoß lag ein geöffnetes Buch, das von einer Stehlampe beleuchtet wurde, die der Mann sich offensichtlich zum Lesen herangezogen hatte. Aber sein Kinn war auf die Brust gesunken, denn er war eingedöst.
    »Das ist Angelo Charron«, sagte Schwester Werling mit lauter Stimme und hoffte wohl, dass er dadurch aufwachte.
    Vermutlich wollte sie ihn nicht vor mir für sein Nickerchen während der Arbeitszeit zurechtweisen. »Als Suizidgefährdete muss Mrs. Kruger rund um die Uhr beobachtet werden.«
    Erst als sie sich laut und vernehmlich räusperte, schreckte Mr. Charron ruckartig auf.
    »Das ist Mrs. Druse«, sagte die Schwester. »Sally Druse. Sie ist eine Freundin der Familie.«
    »Guten Morgen, Sir«, sagte ich und gab ihm die Hand.
    Obwohl er sichtlich darum bemüht war, den Mund beim Sprechen so wenig wie möglich zu öffnen, bemerkte ich den süßlichen Geruch von Alkohol in seinem Atem.
    »Morgen, Ma’am«, sagte er. Er tat sein Bestes, einen wachen Eindruck zu machen, und drehte die Lampe, deren Schein direkt in seine geröteten Augen fiel, zur Seite. Ich spähte in den dunklen Raum, in dem Madeline lag.
    Der Pfleger drehte den Schirm der Lampe so, dass ihr mattes Licht in das dunkle Zimmer fiel und jenen Teil des Bettes erhellte, wo sich Madelines Füße unter der Bettdecke abzeichneten. Das hochgestellte Kopfteil des Bettes lag weiterhin in der Dunkelheit. 
    »Sie schläft seit etwa einer Stunde«, sagte Mr. Charron leise.
    »Aber ganz unruhig. Wenn Sie hier bleiben, wacht sie bestimmt gleich auf und fängt wieder an, von Ihnen und dem kleinen Mädchen zu reden.«
    »Von welchem Mädchen?«, wollte ich wissen.
    Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sie redet ziemlich wirres Zeug. Am besten hören Sie es sich selber an und sehen zu, ob Sie sich einen Reim auf ihr Geplapper machen können.«
    Als Schwester Werling und ich das Zimmer betraten, bewegte Mr. Charron den Lampenschirm so ruckartig nach oben, dass das Licht nun voll auf Madelines Oberkörper und Gesicht fiel.
    Möge es mir erspart bleiben, jemals wieder – sei es nun auf der Erde oder in der Hölle – eine solche Leiche zu sehen.
    Madelines Gesicht war zu einer Fratze namenlosen Grauens erstarrt, und ihre Augen stierten geradeaus, als täte sich vor ihnen das Tor zur ewigen Verdammnis auf. Ihr weit aufgerissener Mund und die hervorquellenden Augen ließen keinen Zweifel daran, dass es möglich war, buchstäblich vor Angst zu sterben. Ein grässlicher Geist musste sie wie ein Basilisk aus mythischen Zeiten allein durch seinen Blick getötet haben. Ihr Kopf war in den Nacken geworfen, und die Hände, die mit den Handflächen nach oben auf dem Betttuch lagen, wiesen blutige Wundmale auf, die sich Madeline offenbar mit einem Eispickel selbst zugefügt hatte, der blutverschmiert noch immer neben ihrer rechten Hand
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