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Das Tagebuch der Eleanor Druse

Das Tagebuch der Eleanor Druse

Titel: Das Tagebuch der Eleanor Druse
Autoren: Stephen King
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Kerzenflamme an zu flackern.
    Vor lauter Aufregung bekam ich eine Gänsehaut.
    »Ist sie bei dir, Lenny? Ist das kleine Mädchen bei dir?«
    Wieder wurde die Flamme zur Seite geblasen. »Siehst du mein kleines Mädchen, Lenny?«
    Ja, sagte die Flamme.
    »Kannst du mit ihm reden?«
    Eine oder zwei endlos lange Sekunden vergingen, ohne dass sich etwas tat. Ich wusste, dass wir nicht viel Zeit hatten, dass Lenny nicht lange in dem Zustand zwischen Leben und Tod bleiben würde.
    »Lenny, sag ihr, dass sie zweimal in die Flamme blasen soll, wenn sie mich hören kann. Bitte, Lenny!«
    Ich hatte das Gefühl, als ob sich zu meinen Füßen eine tiefe, dunkle Kluft zwischen Diesseits und Jenseits auftat. Lange bewegte sich die Flamme nicht, dann fing sie wieder an zu flackern. Einmal. Zweimal.
    Als ich das zweite Flackern sah, schien die Zeit stillzustehen.
    Das kleine Mädchen hatte Kontakt zu mir aufgenommen. Ein Geist aus dem Jenseits, die Stimme, die ich im Schattenreich zwischen Leben und Tod, zwischen Diesseits und Jenseits gehört hatte.
    »Mein Kind, ich weiß, dass du mich hören kannst. Und du weißt jetzt, dass auch ich dich hören kann. Wir sind auf irgendeine Art und Weise Seelenverwandte. Das weiß ich.«
    Ich starrte auf die Flamme.
    »Kannst du mich noch hören?«
    Die Flamme neigte sich wieder zur Seite, als ob eine Lebende sie anbliese.
    »Kind, im Tod gehen wir hinüber ins Licht, wo wir unser ganzes Leben noch einmal erleben und es zu einem ewigen Traum verweben. Aber weil dein Traum vermutlich ein schrecklicher Albtraum ist, kannst du nicht in das Licht eingehen, mein Kind. Und deshalb will ich dir helfen, aber das kann ich nur, wenn ich weiß, was mit dir passiert ist. Kannst du es mir sagen? Kannst du mir sagen, was man dir angetan hat?«
    Die Flamme neigte sich wie zur Antwort wieder zur Seite.
    »Ja? Ach, meine Liebe. Wer hat dir nur so wehgetan? War es jemand, der dir vorgegaukelt hat, dich zu heilen? War es ein Arzt? Musst du wegen ihm durch dieses Krankenhaus geistern?«
    Wusch! Ein starker Luftzug blies die Kerze aus. Irgendwo zerbrach ein Glas, und ich spürte, wie eine kalte Aura den Raum durchquerte. Ein Windstoß des Bösen, der mich erschaudern ließ.
    Ich sah mich um nach der Wesenheit, aber ich konnte lediglich ihr Lachen hören. Der Stimme nach musste sie der boshafte Geist eines Jungen sein.
    »Du anderer Geist«, sagte ich laut, »ich befehle dir, dich auf der Stelle zu entfernen. Lass uns in Frieden. Ich habe keine Angst vor dir! Warum lässt du mich nicht mit dem Mädchen reden? Warum mischst du dich ein? Lass uns in Frieden!«
    Erneut hörte ich sein böses Lachen durch die Station hallen.
    Und dann setzten wieder die jammervollen Schreie des kleinen Mädchens ein, die mir schier das Herz zerrissen.
    Der böse Geist zischte: »Gegrüßet seiest du, Maria, voll der Ungnade. Der Herr hat dich verlassen. Der Herr hat die kleine Mary im finsteren Tal zwischen den Welten im Stich gelassen.«
    »Mary?«, sagte ich und hörte, wie ihre gequälten Schreie durch die dunkle Station gellten. »Mary, ist das dein Name?«
    Ich zündete die Kerze wieder an. Die Flamme flackerte kurz, bevor sie sich beruhigte.
    »Mary, ist das dein Name, Kind? Heißt du Mary?«
    Ein leichter Hauch bog die Flamme kaum merklich zur Seite.
    Einmal.
    »Hör nicht auf das Böse, mein Kind. Ich werde dich nicht im Stich lassen, und auch der Herr hat dich nicht verlassen. Ich werde dir helfen, Mary. Vergiss nicht: Wir können uns hören.
    Deine Stimme gibt es wirklich. Ich kann sie hören. Bald werde ich herausfinden, was mit dir passiert ist und wie es dazu kam, dass du in diesem Zustand gefangen bliebst.«
    Einen Augenblick war ich so losgelöst von Raum und Zeit, wie es in vielen Lehrbüchern als Paradebeispiel mystischer Erfahrung beschrieben wird. Ich konnte die Zeit sowohl als Welle als auch als eine Ansammlung von Partikeln sehen, einen riesigen Ozean einzelner Sekunden, so unzählbar wie Wassermoleküle in den Weltmeeren, und doch waren sie nur ein einziger, ungeteilter, ewig währender Augenblick, ein sich ständig bewegendes Abbild der Ewigkeit.
    Ich wusste, dass das Kind von jenseits des Todes gegen das Leid Unschuldiger im Namen einer verbrecherischen Wissenschaft anschrie. Es schrie für alle, denen im Namen des Allgemeinwohls Schmerzen zugefügt wurden. Das Böse wird immer unter uns sein, aber du und ich, Mary, wir werden uns dagegen behaupten: im Hier und Jetzt ebenso wie in der lange zurückliegenden
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