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Das Tagebuch der Eleanor Druse

Das Tagebuch der Eleanor Druse

Titel: Das Tagebuch der Eleanor Druse
Autoren: Stephen King
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schriftlichen Aufzeichnungen veröffentlicht werden. Darin wird unter anderem meine Krankengeschichte detailliert beschrieben, denn mein schlimmster Widersacher ist ein Arzt, dessen bevorzugte Waffe die Diagnose ist.
    Falls mir etwas zustößt und weitere Nachforschungen ergeben sollten, dass der Geist des Mädchens noch immer einsam und verlassen umherirrt, dann suchen Sie bitte jemanden, der ihm helfen kann. Wie Sie aus den folgenden Aufzeichnungen ersehen, ist es durchaus möglich, mit dem Mädchen Kontakt aufzunehmen, und ich bin überzeugt davon, dass es uns eines Tages mitteilen wird, warum es keinen Frieden finden kann.
     
    Gott schütze uns alle.
    Mit herzlichen Grüßen und voller Bewunderung für Ihr Werk verbleibe ich
    Ihre
    Eleanor Druse

 

DEIN REICH KOMME

ANRUF AUS DER VERGANGENHEIT
    AM 13. DEZEMBER DES JAHRES 2002 wurde ich in den frühen Morgenstunden einer stillen Winternacht vom Klingeln des Telefons geweckt. Wenn man um diese Zeit angerufen wird, vor allem in meinem Alter, dann handelt es sich zumeist um Tätigkeitsberichte des Todesengels, zu dessen Pflichten es gehört, mitten in der Nacht unangekündigt Hausbesuche zu machen und die Todesanzeigen mit den Namen meiner schon in die Jahre gekommenen Freunde zu füllen. Da ich vermutete, dass es sich um einen solchen Anruf handelte, war ich überrascht, die Stimme meines Sohns zu hören.
    Bobby arbeitet in der Nachtschicht als Krankenpfleger im Kingdom Hospital hier in Lewiston, Maine. Er rief von der Arbeit aus an, und ich dachte erst, es ginge um einen der Patienten, die ich als ehrenamtliche Hospizhelferin auf der Station Sonnenschein des Kingdom Hospital regelmäßig besuche. Ein-bis zweimal die Woche setze ich mich dort zu den Sterbenden, damit sie sich in den letzten Tagen ihres Lebens weniger einsam fühlen. Ich halte ihre Hand, bete mit ihnen oder lese ihnen aus Büchern von Swedenborg oder William Blake vor, um sie auf die große Reise vorzubereiten.
    Wenn sie sich auf ein letztes Abenteuer einlassen wollen oder für spirituelle Dinge aufgeschlossen sind, helfe ich ihnen auch gerne mit meinen Kristallen, Karten oder Runen, oder sogar mit einer Seance, falls sie unbedingt noch verstorbene Freunde oder Familienmitglieder erreichen wollen. Gelegentlich war ich in der Vergangenheit auch nachts auf die Station Sonnenschein gerufen worden, besonders dann, wenn es um einen Freund oder um einen Patienten ging, dessen Familie mir während der Besuche besonders ans Herz gewachsen war.
    Aber ich spürte, dass es sich diesmal um etwas anderes handelte.
    »Mom«, sagte Bobby, »entschuldige, dass ich dich geweckt habe, aber hier geschehen merkwürdige Dinge.«
    Bobby sprüht im Allgemeinen nicht gerade vor Tatendrang, und es kam schon einer echten Heldentat oder einer sportlichen Höchstleistung gleich, wenn er um diese Uhrzeit einen Anruf tätigte. Im Mittelalter, als die Ärzte noch dachten, unser Temperament werde von den vier Körpersäften bestimmt –
    Blut, schwarzer Galle, gelber Galle und Phlegma genanntem zähem Schleim –, hätte man Bobby zweifellos als Phlegmatiker eingestuft. Heutzutage nennen sie es, glaube ich, eher sensorisch-integrative Dysfunktion oder Amotivationssyndrom. Er ist ein guter Junge, aber ein ausgesprochen hartnäckiger Leistungsverweigerer. Da er noch keine vierzig ist, hoffe ich immer noch auf Anzeichen von Besserung. Eines jedenfalls ist sicher: Wenn Bobby um 2.57
    Uhr in einer Winternacht zum Telefon greift und seine alte Mutter aus dem Schlaf reißt, dann musste etwas im Gange sein, das weit mehr als nur merkwürdig war.
    »Was ist los, Bobby? Bist du im Krankenhaus? Worum geht’s denn?«
    »Mom, bei uns wurde eine Frau eingeliefert, die versucht hat, Selbstmord zu begehen. Sie heißt Madeline Kruger. Ich glaube, wir kennen die Familie. Die Frau ist total durch den Wind, Mom. Sie hat keine Ahnung, was mit ihr los ist, wo sie wohnt oder wie alt sie ist, und als die Schwestern sie nach dem derzeitigen Präsidenten gefragt haben, hat sie geantwortet: Franklin Delano Roosevelt. Außerdem glaubt sie, wir hätten das Jahr 1939.«
    »Madeline Kruger?« Eine unbeschreibliche Kälte machte sich in meinem Solarplexus breit, und eine Gänsehaut kroch mir über Arme und Beine. Ich zitterte, und mir stockte der Atem. Ein Selbstmordversuch? Ich kannte Madeline Kruger, deren Mädchenname Jensen war, von Kindheit an – sie war drei Jahre jünger als ich –, aber ich hatte sie seit mindestens zwanzig … ach Gott …
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