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Das Tagebuch der Eleanor Druse

Das Tagebuch der Eleanor Druse

Titel: Das Tagebuch der Eleanor Druse
Autoren: Stephen King
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vielleicht sogar auch schon seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihr gehört. Von Lloyd Kruger, der sie vor langer Zeit verlassen hatte, waren ihr der Nachname und drei Kinder geblieben. Er hatte sich etwa zur selben Zeit aus dem Staub gemacht wie auch mein Exgatte.
    »Was ist mit ihr passiert?«, fragte ich Bobby. »Hat sie dir gesagt, dass du mich anrufen sollst?«
    »Es ist noch viel verrückter, Mom. Sie spricht ständig von dir. Sally hier und Sally da. Und als die Schwestern sie gefragt haben: ›Welche Sally meinen Sie denn?‹, sagte sie: ›Na, die kleine Sally Druse, natürlich.‹«
    Erneut lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.
    Warum in aller Welt sollte Madeline Kruger nach einem Selbstmordversuch ausgerechnet von mir sprechen, obwohl wir bei unserer letzten zufälligen Begegnung vor dreißig Jahren in der Obst-und Gemüseabteilung eines Supermarkts nichts weiter als ein paar Belanglosigkeiten ausgetauscht hatten? Ich setzte mich auf und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Vielleicht würde ich mich gleich an irgendein schreckliches Geheimnis erinnern, das sie mir damals in unserer Kindheit unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte. Vielleicht hatte ich es absichtlich vergessen, damit ich es niemandem verraten konnte. 
    »Sie hat den Kopf in den Gasherd gesteckt und ist davon noch ganz benebelt. Außerdem hat sie Tabletten genommen.
    Bisher hat im Krankenhaus noch niemand herausgefunden, wo man ihre Familie erreichen kann.«
    »Und deshalb braucht sie mich, Bobby, ist es so?«
    »Da ist noch eine andere Sache. Sie hat einen Brief hinterlassen. Einen langen.«
    Erneut wurde mir eiskalt, und ich zitterte.
    »Du wirst darin erwähnt, Mom.«
    »Und – was steht darin?«
    »Sie wollten ihn mir nicht zeigen. Sie haben mir nur gesagt, dass du in dem Brief erwähnt wirst, und sie meinten, ich soll dich anrufen, weil sie dauernd von dir spricht. Irgendwas in der Art wie: ›Sagt Sally Druse, dass das kleine Mädchen noch immer hier ist‹ oder ›Das kleine Mädchen kommt zurück‹, oder so was in der Art. Bist du sicher, dass du dich nicht auf der Station Sonnenschein um sie gekümmert hast? Oder ihr aus der Hand gelesen oder sie irgendwie verhext hast?«
    »Bobby, ich verhexe niemanden, außerdem habe ich seit dreißig Jahren kein Wort mehr mit Madeline Kruger gewechselt. Aber jetzt muss ich sie sehen.«
    »Dann schau mal aus dem Fenster, Mom. Seit gestern ist ein halber Meter Schnee gefallen. Bleib zu Hause und rühr dich nicht von der Stelle. Schalt den Fernseher ein und schau den Wetterbericht an, dann weißt du, wovon ich rede.«
    Bobby schärfte mir ein, dass die Nebenstraßen völlig zugeschneit und die Hauptstraßen spiegelglatt seien, und dass ich unter keinen Umständen versuchen sollte, ins Krankenhaus zu kommen. Das sei viel zu gefährlich. Man habe Mrs. Kruger den Magen ausgepumpt, fügte er noch hinzu, weshalb sie erst gegen Vormittag Besuch empfangen könne, und um diese Zeit würde mich Bobby mit seinem Pick-up abholen und zum Krankenhaus fahren. 
    Ich gab Bobby in allem Recht und sagte ihm, dass ich keinen Schritt vor die Tür machen und warten würde, bis er mich abholte. Dann legte ich auf, zog mich an und ging in die Garage, wo ich mich in meinen alten Volvo setzte und auf den Weg zum Kingdom Hospital machte. Ich wollte Madeline in der dunkelsten Nacht ihres Lebens nicht im Stich lassen.
    Bobby hat für manche Dinge einfach kein Gespür. Er konnte doch nicht im Ernst annehmen, ich würde mich umdrehen und weiterschlafen, nachdem ich erfahren hatte, dass eine Jugendfreundin von mir in der geschlossenen Abteilung lag und dort ganz alleine den Dämonen überlassen war, die sie an den Rand der Selbstvernichtung getrieben hatten.
    In dieser entsetzlichen Vollmondnacht im Dezember waren die Straßen glatt wie Bobbahnen. Die Schneehaufen zu beiden Seiten verwandelten sie in Hohlwege, auf denen keine Orientierung möglich war. Ich fuhr den ganzen Weg im Schritttempo und machte mir Vorwürfe, dass ich mich in den letzten dreißig Jahren so wenig um Madeline gekümmert hatte.
    Während der Fahrt versuchte ich, mich an alles zu erinnern, was ich über sie wusste.
    Als Mädchen waren wir eng befreundet gewesen, und ich weiß noch, dass wir, als ich zehn oder elf Jahre alt war, im Krankenhaus lagen. Die Ärzte sagten, wir hätten Keuchhusten, aber meine Mutter gab dem Androscoggin-River die Schuld, der in jenen Tagen nichts anderes war als eine
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