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Das Tagebuch der Eleanor Druse

Das Tagebuch der Eleanor Druse

Titel: Das Tagebuch der Eleanor Druse
Autoren: Stephen King
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Erden vorüber war, dann sollte es eben so sein, dachte ich.
    Interessiert sah ich zu, wie sich Schwestern und Pfleger über meinen Körper beugten und riefen: »Sie reagiert nicht!«
    »Hat sie noch Puls?«
    »Sie atmet nicht mehr!«
    »Ist sie tot?« Ich weiß noch genau, wie es war, außerhalb meines Körpers zu sein. Ich schwebte zwei Meter über mir in der Luft und sah das Rettungsteam mit dem Notfallwagen hereinkommen. Medizinische Geräte haben mich schon immer fasziniert, und es war das reinste Vergnügen, aus der Vogelperspektive mit anzusehen, wie sie jetzt zum Einsatz kamen, um mich wieder zum Leben zu erwecken.
    Merkwürdigerweise war mir das Ergebnis dieser Bemühungen jedoch völlig gleichgültig. Ich war mir unschlüssig, ob ich mich noch einmal zurück in diesen alten arthritischen Körper zwingen lassen wollte. Könnte mir vielleicht vorher jemand sagen, wie es um meine Hüfte steht?
    Ich sah zu, wie Ärzte und Schwestern mir Infusionen legten, Spritzen gaben und eine Sauerstoffmaske überstülpten. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, wozu das alles noch gut war.
    Dann wuchs plötzlich eine Art schwarzes Fell an den Rändern meines sich tunnelartig verengenden Gesichtsfelds. Ich hatte das seltsame Gefühl, mich langsam auf die Matratze meines eigenen Körpers zurückzulegen und in einen langen, tiefen Winterschlaf zu fallen. 
    Gleich ist es da, dachte ich. Das unerforschte Land. Das große Finale. Das Ende vom Lied. Die Heilung aller Krankheiten. Der Sprung in die Nacht.
    Bitte, darf ich den letzten Tanz alleine tanzen?

GUT
    Tot zu sein war das Beste, was mir je passiert war. Der Tod war besser als jedes Buch, besser als jeder Film, besser als alle philosophischen Spekulationen und theologischen Offenbarungen, von denen ich auf dem College gelesen hatte.
    Nur schade, dass ich das all diesen geistlosen Ignoranten nicht mehr sagen konnte, die in der menschlichen Seele nichts anderes sehen als ein flüchtiges Rauschen unserer Gehirnzellen. Achtung! Achtung! Neueste Nachrichten von der soeben verstorbenen Sally Druse: Materialisten sind auf dem Holzweg. Erleichtert stellte ich fest, dass das Jenseits kein großes Nichts war, sondern ein herrlich traumloser Zustand ewiger Ruhe. Ich konnte nicht erkennen, ob ich einen Körper hatte, dafür war es zu dunkel, aber ich hatte das Gefühl, dass ich unter einem sternenlosen Himmel in einem riesigen Meer aus warmem schwarzem Fruchtwasser trieb. Keine Sorge belastete meine Seele, und es schien, als verfügte ich über gerade genug blindes Empfinden, um die Wonnen des Atemstillstands ohne die damit verbundenen unangenehmen Gefühle bewusster Wahrnehmung zu genießen. Zum ersten Mal, ob im Diesseits oder im Jenseits, empfand ich meine Existenz als mühelos und unbelastet von Erinnerungen, Ängsten, Schuldgefühlen, Einsamkeit oder Schmerz. Ich genoss alle restaurativen Vorzüge des Tiefschlafs ohne Albträume oder Ängste, die einen hochschrecken lassen. Es war, als fiele ich im Zeitlupentempo endlos lange durch einen unendlich weiten Raum, um schließlich in ein Meer der Ruhe einzutauchen.
    Auf wundersame Weise war ich in der Lage, diesen glückseligen Zustand zu genießen, ohne mir dessen voll bewusst zu sein. Stattdessen bewegte ich mich offenbar jenseits der bewussten Wahrnehmung, ohne jemals die Schwelle zum urteilenden Erfassen zu überschreiten, das meine Philosophieprofessoren Apperzeption genannt hatten, den mentalen Akt, mit dem das Bewusstsein realisiert, dass es realisiert. Soll Sokrates, dieser alte griechische Päderast, doch behaupten, ein unreflektiertes Leben sei es nicht wert, gelebt zu werden. Das hier war Unreflektiertheit in ihrer schönsten Form, ein Paradies gedankenloser Verzückung, verglichen mit dem Leben, das ich auf Erden geführt hatte.
    Aber dann blitzte eine Erinnerung auf – Madeline Kruger und das kleine Mädchen fielen mir wieder ein –, und ich hatte das Gefühl, alles verdorben zu haben, weil ich es zu sehr genossen hatte. Hatte ich die herrliche Gedankenlosigkeit des Jenseits verspielt, weil sie mir zu gut gefallen hatte?
    Plötzlich kamen meine Empfindungen zurück, und aus zarten Überlegungen wurden handfeste Aktionen. Ich bewegte erst ein Augenlid, dann einen Finger, und plötzlich dämmerte das unaussprechliche Grauen des Bewusstseins am Horizont herauf wie eine sich immer dichter zusammenballende Gewitterwolke.
    Großer Gott! Ich kehrte zurück! Vielleicht waren die heißen Blitze in der Ferne nur die letzten
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