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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel
Autoren: Alexander Kuprin
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nachmittags eingenommen wird, dehnt sich die Zeit endlos lange und unerträglich eintönig. Überhaupt ist diese Pause tagsüber die schwierigste und ödeste Zeit im Leben des Hauses. Ihre Stimmung hat entfernte Ähnlichkeit mit jenen leeren, schalen Stunden, die an großen Festtagen in geschlossenen Mädchenpensionaten herrschen, wenn die Freundinnen nach Hause gefahren sind, wenn man viel Freiheit und nichts zu tun hat und den ganzen Tag lichte, süße Langeweile verspürt. Nur in Unterröcken und weißen Hemden, mit bloßen Armen und manchmal barfuß, schlendern die Frauen ziellos von Zimmer zu Zimmer, alle ungewaschen und ungekämmt, träge klimpern sie mit dem Zeigefinger auf den Tasten des alten Klaviers, träge legen sie Karten, träge beschimpfen sie einander, und mit gereizter Nervosität warten sie auf den Abend.
    Ljubka hat nach dem Frühstück Brotreste und Fleischabfälle zu Amour gebracht, doch bald wurde sie des Hundes überdrüssig. Zusammen mit Njura hat sie sich Bonbons und Sonnenblumenkerne gekauft, und jetzt stehen beide am Zaun, der das Haus von der Straße trennt, knabbern die Samenkerne, deren Schalen ihnen auf Kinn und Brust hängenbleiben, und schwatzen gleichmütig über alle, die auf der Straße vorübergehen: über den Lampenputzer, der in die Straßenlaternen Petroleum nachfüllt, über den Polizisten mit dem Strafbuch unterm Arm, über die Wirtschaftsverwalterin aus einem anderen Etablissement, die über die Straße in einen Kramladen läuft …
    Njura ist klein, hat blaue Glubschaugen, helles, flachsblondes Haar und blaue Äderchen an den Schläfen. Auf ihrem Gesicht liegt ein stumpfer, unschuldiger Ausdruck, der an ein weißes Osterlamm aus Zucker erinnert. Sie ist lebhaft, emsig, neugierig, mischt sich in alles ein, stimmt allen zu, weiß als erste alle Neuigkeiten, und wenn sie spricht, spricht sie so viel und so schnell, daß ihr Spritzer vom Mund fliegen und auf ihren roten Lippen Bläschen sprudeln wie bei einem Kind.
    Aus der Bierstube gegenüber kommt ein kraushaariger, magerer Bursche mit Schielaugen herausgelaufen, ein Bediensteter, und rennt in die Kneipe nebenan.
    »Prochor Iwanowitsch, he, Prochor Iwanowitsch«, ruft Njura, »möchten Sie Sonnenblumenkerne?«
    »Kommen Sie uns besuchen«, fällt Ljuba ein.
    Njura prustet und fügt hinzu, von Lachen geschüttelt: »Zum Füßewärmen!«
    Doch da geht die Haustür auf, und auf der Schwelle erscheint streng und drohend die Gestalt der ersten Verwalterin.
    »Pfui! Was ist das für ein Unfug?« herrscht sie die beiden an. »Wie oft muß man euch noch sagen, daß es verboten ist, tagsüber hinauszugehen, und noch dazu – pfui! – in Unterwäsche. Ich verstehe nicht, daß ihr so gar kein Gewissen habt. Anständige Mädchen, die auf sich halten, dürfen sich nicht so aufführen. Ihr seid ja gottlob nicht in einem Soldatenbordell, sondern in einem ordentlichen Etablissement. Nicht in der Kleinen Kutschergasse.«
    Die Mädchen gehen ins Haus zurück, verkriechen sich in der Küche und sitzen dort lange beinebaumelnd auf Küchenhockern, sehen der grämlichen Köchin Praskowja zu und knabbern schweigend Sonnenblumenkerne.
    Im Zimmer der Kleinen Manka, die auch Skandal-Manka und Blonde Manka genannt wird, hat sich eine ganze Gesellschaft versammelt. Manka sitzt auf dem Bettrand neben Soja, einem anderen Mädchen, das groß und hübsch ist, runde Brauenbögen, graue, etwas vorstehende Augen und ein gutmütiges weißes Gesicht hat, das typische Gesicht einer russischen Prostituierten. Die beiden spielen Karten, Sechsundsechzig. Die beste Freundin der Kleinen Manka, Shenja, liegt rücklings hinter ihnen auf dem Bett, liest in dem zerflederten Buch »Das Halsband der Königin« von Dumas und raucht. Sie ist die einzige im ganzen Etablissement, die gern liest, und sie liest gierig und wahllos. Doch wider Erwarten hat die Lektüre von Abenteuerromanen sie nicht sentimental werden lassen und ihrer Phantasie nicht geschadet. In Romanen bevorzugt sie lange, verwickelte Intrigen und große Zweikämpfe, vor deren Beginn der Vicomte sich die Schuhe aufschnürt, um zu zeigen, daß er keinen Schritt von seiner Position zu weichen gedenkt, und nach deren Abschluß der Marquis, der den Grafen durchbohrt hat, sich dafür entschuldigt, daß er in das schöne neue Wams ein Loch gemacht hat; ihr imponieren goldgefüllte Beutel, die von den Haupthelden achtlos nach links und nach rechts weggeschleudert werden, und Liebesabenteuer und die geistreichen
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