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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel
Autoren: Alexander Kuprin
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der Püffe und Kratzer vom Vortage sich noch halten, und sie sind naiv geschminkt mit Hilfe einer speichelbefeuchteten roten Zigarettenschachtel.
    Das ganze Jahr über – mit Ausnahme der drei letzten Tage der Passionswoche und des Vorabends von Mariä Verkündigung, wo kein Vogel an seinem Nest baut und kein Mädchen seine Zöpfe flicht – flammen allabendlich, kaum daß es dunkel wird, vor jedem Haus über den schnitzereiverzierten spitzen Torbogen rote Hängelampen auf. Die Straße wirkt festlich, wie zu Ostern: Alle Fenster sind hell beleuchtet, fröhliche Geigen- und Klaviermusik dringt durch die Scheiben, ununterbrochen fahren Droschken vor und wieder ab. Die Eingangstüren aller Häuser sind weit geöffnet, und von der Straße aus kann man hineinschauen: da führt eine steile Treppe nach oben zu einem schmalen Korridor, da funkelt hell ein vielarmiger Kronleuchter, und die grünen Wände der Vorhalle sind mit Schweizer Landschaften bemalt. Bis zum Morgengrauen steigen Hunderte und Tausende von Männern diese Treppen hinauf und hinab. Hier verkehrt alles: hinfällige Sabbergreise, die sich künstlich aufzuputschen suchen, und Knaben – Kadetten und Gymnasiasten –, halbe Kinder noch; bärtige Familienväter, ehrbare Stützen der Gesellschaft mit Goldrandbrillen, und Jungverheiratete und sogar Verliebte auf Freiersfüßen; ehrwürdige Professoren mit klangvollen Namen ebenso wie Diebe und Totschläger; liberale Advokaten und strenge Wächter der Moral – die Pädagogen – und auch fortschrittliche Schriftsteller – Autoren flammender, leidenschaftlicher Artikel über die Gleichberechtigung der Frau; Detektive und Spione und entflohene Zuchthäusler, Offiziere und Studenten, Sozialdemokraten und Anarchisten und gedungene Patrioten; Schüchterne und Draufgänger, Kranke und Gesunde; solche, die zum erstenmal eine Frau haben, und alte Wüstlinge, von jeglicher Art Laster gezeichnet; schöne Männer mit klarem Blick und auch Mißgestalte, von der Natur böse verhunzt, Taubstumme, Blinde, Leute mit eingeschlagener Nase, mit welkem, schlaffem Körper, mit stinkendem Atem, mit Glatze, Zipperlein und Ungeziefer – dickwänstige, hämorrhoidengeplagte Affen. Sie kommen ganz einfach herein, wie in ein Restaurant oder einen Bahnhof, sitzen da, rauchen, trinken, geben sich krampfhaft fröhlich, tanzen mit widerlichen Körperverrenkungen, den Geschlechtsakt imitierend. Sie suchen sich eine Frau aus, manchmal aufmerksam und lange prüfend, manchmal mit grober Eile, und sie wissen im voraus, daß sie niemals auf Ablehnung stoßen werden. Ungeduldig zahlen sie im vorhinein ihr Geld, um dann auf einem öffentlichen Bett, dem noch die Körperwärme ihres Vorgängers anhaftet, ganz nutzlos das größte und herrlichste aller Weltwunder zu vollziehen – das Wunder der Zeugung neuen Lebens. Und die Frauen befriedigen ihr Begehren mit gleichmütiger Bereitwilligkeit, mit immer den gleichen Worten, mit geübten professionellen Bewegungen, wie Maschinen, um gleich danach, in derselben Nacht, mit den gleichen Worten und Gesten und dem gleichen Lächeln den dritten, vierten, zehnten Mann zu empfangen, der oft genug schon im großen Saal wartet, bis er an der Reihe ist.
    So geht es die ganze Nacht. Gegen Morgen wird das Viertel etwas stiller, und der helle Tag findet es menschenleer, in tiefen Schlaf gesunken, mit fest verschlossenen Türen und abgedichteten Fensterläden. Erst gegen Abend werden die Frauen erwachen und sich auf die nächste Nacht vorbereiten.
    Und so leben sie Tag für Tag, ohne daß ein Ende abzusehen ist, Monate und Jahre führen sie in ihren öffentlichen Harems dieses seltsame, unwirkliche Leben, von der Gesellschaft ausgestoßen, von der Familie verdammt, Opfer des gesellschaftlichen Temperaments, Kloaken für den Überfluß an Wollust in der Stadt, Hüterinnen familiärer Ehrbarkeit – vierhundert dumme, träge, hysterische, unfruchtbare Frauen.

2
    Zwei Uhr mittags. In dem zweitklassigen Zweirubeletablissement der Anna Markowna liegt alles in tiefem Schlaf. Der große quadratische Saal mit den Goldrahmenspiegeln, mit den zwei Dutzend plüschbezogenen Stühlen, die ordentlich an den Wänden stehen, mit den Öldrucken »Bojarengelage« und »Das Bad« von Makowski, mit dem Kristallkronleuchter in der Mitte – auch er schläft und wirkt im stillen Halbdunkel ungewöhnlich melancholisch, streng und merkwürdig trist. Gestern brannten hier, wie jeden Abend, die Lichter, erklang flotte Musik, wogte blauer
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