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Das Stonehenge - Ritual

Das Stonehenge - Ritual

Titel: Das Stonehenge - Ritual
Autoren: Sam Christer
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sich jedoch nicht auf seine akademischen Weihen. Er hat Cambridge schon vor vielen Jahren verlassen und seine Fähigkeiten dafür eingesetzt, einige der seltensten Kunstgegenstände der Welt aufzuspüren, zu identifizieren und zu kaufen, um sie anschließend wieder zu verkaufen. Dieser Vorgehensweise verdankt er einen Stammplatz auf der Liste der Reichen und den im Flüsterton verbreiteten Ruf, eine Art Grabräuber zu sein.
    Der Sechzigjährige nimmt seine braungerahmte Lesebrille ab und legt sie auf den antiken Schreibtisch. Die Angelegenheit, die er zu erledigen hat, ist zwar dringlich, kann aber dennoch warten, bis die Varietévorstellung draußen vorüber ist.
    Der Harem des Pfaus hört pflichtbewusst zu fressen auf, um dem Hahn die Aufmerksamkeit zu widmen, nach der er so lechzt. Er gibt einen kurzen, ruckartigen Tanz zum Besten und führt die gelbbraunen Weibchen dann zu einer sauber getrimmten Ligusterhecke. Chase greift nach einem kleinen Fernglas, das er immer am Fenster liegen hat. Zuerst sieht er nichts als graublauen Himmel. Als er den Gucker ein wenig nach unten neigt, tauchen die Vögel verschwommen in seinem Sichtfeld auf. Er dreht an dem Fernglas herum, bis schließlich alles gestochen scharf ist – so klar wie dieser kühle Sommermorgen. Das Männchen ist mittlerweile von sämtlichen Weibchen umringt und bricht immer wieder in einen kurzen, trillernden Gesang aus, um seine Freude darüber zum Ausdruck zu bringen. Ein Stück rechts von der Gruppe befindet sich am Fuß der Hecke ein flaches Nest.
    Chase ist in empfindsamer, sentimentaler Stimmung. Das Schauspiel draußen rührt ihn fast zu Tränen. Ein männliches Wesen, auf dem viele bewundernde Blicke ruhen – auf der Höhe seines Lebens, voller Pracht und Potenz, im Begriff, eine Familie zu gründen. Er, Chase, kann sich noch gut an diese Tage erinnern. Dieses Gefühl. Diese Wärme.
    Alles vorbei.
    In dem vornehmen Haus gibt es keine Fotos von seiner verstorbenen Frau Marie und auch keine von seinem Sohn Gideon, der ihm fremd geworden ist. Das Haus ist leer. Die Zeit, in der der Professor sein Gefieder gespreizt hat, ist unwiederbringlich vorüber.
    Er legt das Fernglas neben das Flügelfenster und kehrt zu seinem wichtigen Dokument zurück. Nachdenklich greift er nach einem alten Füllfederhalter, einem Pelikan Caelum, der in limitierter Auflage erschienen ist, und freut sich darüber, wie schwer und gut er in der Hand liegt. Von diesem Schreibgerät wurden nur insgesamt fünfhundertachtzig Exemplare hergestellt, und zwar zu Ehren der Fünfundachtzigmillionen-Kilometer-Umkreisung der Sonne durch den Planeten Merkur. Die Astronomie hat im Leben von Nathaniel Chase eine entscheidende Rolle gespielt. Zu entscheidend, geht ihm durch den Kopf.
    Er taucht die Spitze des Füllers in ein antikes Tintenfass aus Messing, wartet, bis der Pelikan sich sattgetrunken hat, und nimmt dann seine Arbeit wieder auf.
    Nathaniel braucht eine Stunde, um sein Vorhaben abzuschließen. Das schöne Papier, auf dem er schreibt, ist aus feinstem Bütten und trägt sein persönliches Wasserzeichen. Gewissenhaft liest er jede einzelne Zeile noch einmal durch und überlegt, welche Wirkung der Brief auf seinen Leser haben wird. Anschließend löscht er ihn ab, faltet ihn zweimal säuberlich, steckt ihn in einen Umschlag und versiegelt diesen mit altmodischem Wachs und seinem persönlichen Stempel. Zeremonien sind etwas Wichtiges. Besonders an diesem Tag.
    Nachdem er den Brief auffällig mitten auf dem Schreibtisch platziert hat, lehnt er sich zurück. Er ist zugleich traurig und froh darüber, dass er das Schriftstück nun vollendet hat.
    Mittlerweile steht die Sonne bereits über den Obstbäumen auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens. An jedem üblichen Tag würde er jetzt zu einem Rundgang aufbrechen, vielleicht im Sommerhäuschen einen Happen essen, dabei das Tierleben im Garten beobachten und sich anschließend ein nachmittägliches Nickerchen gönnen. An jedem üblichen Tag.
    Er öffnet die unterste Schreibtischschublade und hält einen Moment inne, den Blick auf den Inhalt der Schublade gerichtet. Mit einer entschlossenen Bewegung greift er nach dem Revolver aus dem Ersten Weltkrieg, hält ihn sich an die Schläfe und drückt ab.
    Draußen vor dem blutbespritzten Fenster flattern die Pfaue kreischend auseinander, hinauf in den grauen Himmel.

3
    Am nächsten Tag
    Universität Cambridge
    Gideon Chase legt wortlos auf und starrt mit leerem Blick an die Wände in
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