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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Autoren: John Boyne
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von einer Journalistin oder Verehrerin aufgespürt zu werden. »Trägt sie einen Stapel Bücher unter dem Arm?«
    »Ich habe keine gesehen, Sir, nein.«
    Ich sah mich um und überlegte. »Hören Sie, könnten Sie mir einen Gefallen tun?«, fragte ich. »Gehen Sie zu ihr und sagen Sie ihr, ich bin bereits schlafen gegangen. Und dass es mir leidtut und so weiter. Sagen Sie ihr, sie soll sich an meinen Agenten wenden – der wird wissen, was er mit ihr machen soll. Warten Sie, ich habe hier irgendwo seine Karte.«
    Ich wühlte in meiner Tasche herum, holte eine Handvoll Visitenkarten hervor und betrachtete sie mit einem Gefühl der Erschöpfung. So viele Namen, so viele Gesichter, an die es sich zu erinnern galt. Darin war ich noch nie gut gewesen.
    »Sir, ich glaube nicht, dass sie ein Fan ist. Könnte Sie eine Verwandte sein? Sie ist schon ziemlich alt, wenn ich das so sagen darf.«
    »Sie dürfen, wenn es so ist«, sagte ich. »Aber nein, eine Verwandte kann sie nicht sein. Hat sie irgendeine Notiz für mich hinterlassen?«
    »Nein, Sir. Sie hat nur gesagt, dass sie extra aus Norwich hergekommen sei. Sie sagte, Sie wüssten schon, was das bedeutet.«
    Ich starrte ihn an. Er war recht hübsch, und das Feuer verlischt nie.
    »Mr Sadler? Mr Sadler, ist alles in Ordnung?«
    Ich ging nervös in die düstere Lounge hinüber, lockerte meine Krawatte etwas und sah mich um. Es waren für die späte Stunde noch überraschend viele Gäste da, aber sie war nicht zu verwechseln, und das nicht nur, weil sie die einzige ältere Dame im Raum war. Ich glaube, ich hätte sie überall wiedererkannt. Obwohl es so viele Jahre her war, war sie nie ganz aus meinen Gedanken verschwunden. Sie saß da, las ein Buch, dessen Titel ich nicht entziffern konnte, und sah plötzlich auf, wenn auch nicht in meine Richtung, als sie (wie ich annahm) spürte, dass ich sie anblickte. Ich glaubte, einen Schatten über ihr Gesicht gleiten zu sehen. Sie hob ihr Weinglas und führte es an die Lippen, schien es sich dann aber anders zu überlegen und stellte es zurück auf den Tisch. Ich blieb ziemlich lange reglos mitten im Raum stehen, und erst als sie den Kopf wandte und leicht zu mir hinneigte, ging ich zu ihr. Sie hatte den Platz gut gewählt, in einer angedeuteten Nische, von den übrigen Tischen leicht abgesetzt und mit schmeichelhafter Beleuchtung. Gut für uns beide.
    »Ich habe in der Zeitung von Ihrem Preis gelesen«, sagte sie ohne jede Vorrede, als ich ihr gegenüber Platz genommen hatte. »Und ich war zufällig in London, zur Hochzeit meines Enkels gestern. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich dachte, ich sollte Sie besuchen. Es war eine Entscheidung in letzter Minute. Ich hoffe, es stört Sie nicht.«
    »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind«, antwortete ich, was ich schon aus Höflichkeit sagen sollte, wie mir schien, wobei ich jedoch nicht recht wusste, was ich tatsächlich empfand.
    »Sie erinnern sich also an mich?«, fragte sie mit einem halben Lächeln.
    »Ja, ich erinnere mich.«
    »Ich wusste, das würden Sie.«
    »Die Hochzeit«, sagte ich auf der Suche nach einem sicheren Thema, während ich meine Gedanken sammelte. »War sie schön?«
    »So wie Hochzeiten nun mal sind«, antwortete sie mit einem Achselzucken und nickte, als der Kellner ihr nachfüllen wollte. Ich bestellte einen einfachen Whisky, änderte meine Meinung dann aber und nahm einen doppelten. »Wir essen und trinken immer zusammen, Tristan«, sagte sie. »Komisch, nicht? Nun ja, es war schon ganz nett, obwohl ich mir nicht viel aus dem Mädchen mache. Sie ist ein Flittchen. So, damit habe ich’s ausgesprochen. Sie wird Henry an der Nase herumführen.«
    »Henry ist Ihr Enkel?«
    »Ja. Der jüngste Sohn meiner ältesten Tochter. Ich habe acht Enkel, wenn Sie das glauben können. Und sechs Großenkel.«
    »Meinen Glückwunsch.«
    »Danke. Ich nehme an, Sie fragen sich, was ich hier will?«
    »Dazu hatte ich noch nicht die Zeit«, sagte ich und dankte dem Kellner, als er meinen Drink vor mich hinstellte. »Sie haben mich etwas überrascht, Marian. Verzeihen Sie mir, wenn ich nicht den wachesten Eindruck mache.«
    »Nun, Sie sind steinalt«, sagte sie leichthin. »Obwohl ich noch älter bin. Da haben wir es. Wobei die Tatsache, dass wir beide noch compos mentis sind, sicher ein Triumph guter Ernährung und eines gesunden Lebenswandels ist, würde ich sagen.«
    Ich lächelte und nahm einen bedächtigen Schluck von meinem Whisky. Sie hatte sich nicht verändert. Sie besaß
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