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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Autoren: John Boyne
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herausläuft. Ich will ihn tot, tot, tot. Ich liebe ihn, aber ich will ihn tot. Ich kann in keiner Welt leben, in der er existiert.
    »Ich brauche noch einen!«, ruft Sergeant Clayton Wells zu.
    Aber Wells schüttelt den Kopf. »Ich nicht«, sagt er.
    Ich richte meinen Blick auf das Erschießungskommando, das sich bereits versammelt hat. Die Sonne ist aufgegangen, es ist sechs Uhr. Fünf Männer stehen nebeneinander, mit einer Lücke für den sechsten.
    »Sie wissen, ich darf nicht«, sagt Wells. »Es muss ein einfacher Soldat sein.«
    »Dann mach ich es eben selbst«, sagt Clayton.
    »Das dürfen Sie nicht, Sir«, sagt Wells. »Das ist gegen die Vorschriften. Warten Sie. Ich gehe hinüber in den Graben und suche jemanden aus. Einen von den Neuen, die ihm noch nicht begegnet sind.«
    Ich kenne keinen der fünf, die da stehen, um Will zu erschießen. Sie wirken völlig verängstigt. Sie sehen sauber aus. Zwei zittern so sehr, dass ich es aus der Entfernung wahrnehmen kann.
    Ich gehe auf sie zu, und Clayton sieht mir überrascht entgegen. »Sie brauchen einen sechsten Mann?«, frage ich.
    »Nein, Sadler«, sagt Wells und starrt mich verständnislos an. »Nicht Sie. Gehen Sie zurück in den Graben. Suchen Sie Morton und schicken ihn her, verstanden?«
    »Sie brauchen einen sechsten Mann?«, wiederhole ich.
    »Ich sagte, Sie nicht, Sadler.«
    »Und ich sage, ich tue es«, sage ich und ergreife das sechste Gewehr, während der Hass durch meine Adern pulsiert. Ich bewege den Kiefer hin und her, um den Schmerz in der Wange etwas zu lindern, aber es fühlt sich so an, als schlüge er mich bei jedem Mal neu.
    »Dann haben wir’s ja«, sagt Sergeant Clayton und gibt der Wache das Signal, die Tür zu öffnen. »Bringen Sie ihn heraus. Es ist so weit.«
    »Sadler, denk nach, was du da tust, um Himmels willen«, zischt Wells und packt mich am Arm, aber ich mache mich los und stelle mich in die Reihe. Ich will seinen verdammten Kopf. Ich überprüfe die Ladung und mache mich bereit. Ich stehe zwischen zwei jungen Rekruten, die ich beide nicht beachte.
    »Corporal Wells, gehen Sie aus dem Weg«, bellt Sergeant Clayton, und dann sehe ich ihn. Ich sehe, wie Will die Stufen heraufgeführt wird. Seine Augen sind mit einem schwarzen Tuch verbunden, und über seinem Herzen ist ein rotes Stück Stoff am Hemd befestigt. Bis zur Treppe geht er zögerlich. Ich starre ihn an und erinnere mich an alles, ich höre seine Worte in meinen Ohren und muss mich zusammenreißen, um nicht zu ihm hinzurennen und ihm die Glieder einzeln aus dem Leib zu reißen.
    Sergeant Clayton gibt den Befehl still zu stehen, und das tun wir, sechs Mann, Seite an Seite, die Gewehre erhoben.
    Was machst du da? , denke ich. Die Stimme der Vernunft spricht in meinem Kopf. Sie fleht mich an, es mir noch einmal zu überlegen. Ich höre nicht auf sie.
    »Anlegen!«, ruft Clayton, und in dem Moment zieht sich Will, tapfer bis zuletzt, die Binde von den Augen. Er will seine Mörder sehen, die Männer, die ihn erschießen. Sein Ausdruck ist voller Angst, aber auch voller Stärke und Spannkraft. Und dann erkennt er mich in der Reihe und starrt mich an. Er ist schockiert. Seine Miene fällt in sich zusammen.
    »Tristan«, sagt er, sein letztes Wort.
    Und das Kommando kommt, und der Zeigefinger meiner rechten Hand drückt den Abzug, innerhalb eines Herzschlags gehen sechs Gewehre los, meines so schnell wie die anderen, und mein Freund liegt auf dem Boden, reglos, sein Krieg ist vorbei.
    Meiner fängt gerade an.

Die Schande meiner Tat
    London, Oktober 1979

E inmal sah ich sie noch.
    Es war fast genau sechzig Jahre später, im Herbst 1979. Mrs Thatcher war seit ein paar Monaten an der Macht, und es lag etwas in der Luft, das uns sagte, dass die kulturellen Lebensbedingungen, so wie wir sie kannten, ihrem Ende entgegengingen. Über meinen einundachtzigsten Geburtstag war in den Zeitungen berichtet worden, und ich bekam einen Brief von der Literarischen Gesellschaft, der mich darüber informierte, dass mir ein verunglücktes, in einen Holzblock eingefasstes Stück Bronzeguss mit einem silbernen, aus der Krone hervorstehenden Stift überreicht werden sollte, aber nur unter der Bedingung, dass ich gewillt sei, einen Frack anzuziehen, an einem festlichen Abendessen teilzunehmen, eine kurze Rede zu halten, noch kürzer aus meinen Werken zu lesen und mich ein, zwei Tage für die Presse bereitzuhalten.
    »Aber warum kann ich nicht Nein sagen?«, fragte ich Leavitt, meinen Verleger, einen
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