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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Autoren: John Boyne
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wir uns kurz gegenseitig ab, bevor wir wieder wegsahen.
    »Es ist doch nur ein Fenster, meine Beste«, kommentierte die Schriftstellerin kühl.
    Länger als eine Stunde hatte es gedauert, bis sich die drei Parteien in unserem Abteil gegenseitig zur Kenntnis genommen hatten. Das erinnerte mich an die Geschichte von den beiden Engländern, die sich nach einem Schiffbruch auf eine einsame Insel retten konnten und dort fünf Jahre, ohne ein Wort zu wechseln, ausharrten, weil sie sich nicht vorgestellt worden waren.
    Zwanzig Minuten später setzte sich unser Zug wieder in Bewegung, und wir trafen mit anderthalb Stunden Verspätung in Norwich ein. Das junge Paar stieg zuerst aus, fast schon hysterisch ungeduldig und auf eine Weise kichernd, als könnten sie nicht schnell genug in ihr Zimmer kommen. Ich half der älteren Dame mit ihrem Koffer.
    »Das ist sehr nett von Ihnen«, bemerkte sie, während sie wie abwesend den Blick über den Bahnsteig schweifen ließ. »Mein Fahrer sollte eigentlich hier sein, um mir weiterzuhelfen.«
    »Es war mir ein Vergnügen«, sagte ich und versuchte gar nicht erst, ihr ein weiteres Mal die Hand zu schütteln, sondern nickte nur unbeholfen, als wäre sie die Königin und ich ein treuer Untertan. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht in Verlegenheit gebracht. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass sich Mr Pynton wünscht, wir hätten Autoren Ihres Formats in unserem Programm.«
    Sie antwortete mit einem Lächeln. Ich bin bedeutend , sagte ihr Ausdruck. Ich habe Gewicht, und schon war sie verschwunden, ihren uniformierten Fahrer hinter sich. Ich blieb, wo ich war, umgeben von Leuten, die zu ihren Bahnsteigen oder Richtung Ausgang eilten, verloren in der Menge, allein in diesem geschäftigen Bahnhof.
    Ich trat aus dem dicken Gemäuer des Bahnhofs Norwich Thorpe in einen unerwartet strahlenden Nachmittag und fand schnell heraus, dass die Straße, in der meine Pension lag, die Recorder Road, nur ein paar Schritte entfernt war. Dort musste ich dann jedoch enttäuscht feststellen, dass ich mein Zimmer noch nicht beziehen konnte.
    »Oje«, sagte die Wirtin, eine magere Frau mit blasser, zerkratzter Haut. Sie zitterte, obwohl es nicht kalt war, und rang nervös die Hände. Sie war groß, die Art Frau, die aufgrund ihrer unerwarteten Statur aus jeder Menge heraussticht. »Ich fürchte, wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen, Mr Sadler. Hier geht es schon den ganzen Tag drunter und drüber, und ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen erklären soll, was geschehen ist.«
    »Ich habe in meinem Brief ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, Mrs Cantwell«, sagte ich und versuchte, den verärgerten Unterton abzuschwächen, der sich in meine Stimme schlich. »Ich habe geschrieben, ich würde kurz vor fünf hier sein, und jetzt ist es bereits weit nach sechs.« Ich nickte in Richtung der Standuhr hinter ihr. »Ich will ja nicht kleinlich sein, doch …«
    »Aber das sind Sie ganz und gar nicht, Sir«, sagte Mrs Cantwell schnell. »Das Zimmer hätte seit Stunden fertig sein sollen, nur …« Sie verstummte, die Stirn in tiefe Falten gelegt, biss sich auf die Lippe und wandte den Blick ab. Sie schien mir nicht in die Augen sehen zu können. »Wir hatten hier heute Morgen so etwas wie eine kleine Unannehmlichkeit, Mr Sadler, um die Wahrheit zu sagen. In Ihrem Zimmer. Das heißt, in dem Zimmer, das wir für Sie vorgesehen hatten. Wahrscheinlich wollen Sie es jetzt nicht mehr. Ich sollte das wohl nicht sagen. Ich weiß nicht, was ich damit machen soll, ganz ehrlich nicht. Es ist ja nicht so, dass ich es einfach unvermietet lassen könnte.«
    Sie schien ernsthaft aufgewühlt, und obwohl ich im Grunde mit den Gedanken ganz bei meinen Plänen für den nächsten Tag war, rührte sie mich, und ich wollte gerade fragen, ob es etwas gebe, womit ich helfen könne, als sich hinter ihr eine Tür öffnete und sie herumfuhr. Ein etwa siebzehnjähriger Junge kam herein, den ich für ihren Sohn hielt: Er hatte ihre Augen und ihren Mund, allerdings war seine Haut noch um einiges schlechter, überzogen mit der typischen Akne seines Alters. Er stutzte, sah mich kurz an und wandte sich gereizt an seine Mutter.
    »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst mich rufen, wenn der Gentleman eintrifft?«, sagte er und blitzte sie an.
    »Aber er ist doch gerade erst in diesem Moment hereingekommen, David«, protestierte sie.
    »Das stimmt«, sagte ich und verspürte den merkwürdigen Drang, sie zu verteidigen. »Gerade eben erst.«
    »Aber du hast
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