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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Autoren: John Boyne
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plötzliche Bedürfnis nach einer Zigarette, befühlte meine Taschen und hoffte, das Päckchen Gold Flakes darin zu finden, das ich morgens im Bahnhof Liverpool Street gekauft hatte, wusste aber gleich, dass es mir im Zug abhandengekommen war. Vorm Aussteigen hatte ich der Schriftstellerin mit ihrem Koffer geholfen und es dabei auf den Sitz gelegt, wo es wahrscheinlich noch immer lag, es sei denn, es hatte den Weg in die Tasche eines anderen gefunden.
    Inhaber: J. T. Clayton.
    Es musste Zufall sein. Sergeant Clayton stammte, soweit ich mich erinnerte, aus Newcastle. Sein Akzent hatte ihn verraten. Aber hatte ich nicht gehört, dass sein Vater in den höheren Rängen einer Brauerei beschäftigt war? Oder verwechselte ich da jetzt etwas? Nein, es war lächerlich, entschied ich und schüttelte den Kopf. Es musste Tausende Claytons in England geben. Zehntausende. Der hier konnte nicht derselbe sein. Ich weigerte mich, dieser peinigenden Spekulation nachzugeben, drückte die Tür auf und trat ein.
    Der Schankraum war halb mit Arbeitern gefüllt, die mir einen kurzen Blick zuwarfen, bevor sie sich wieder ihren Gesprächen zuwandten. Obwohl ich fremd war, fühlte ich mich entspannt, in Gesellschaft und doch für mich. Ich habe über die Jahre so viele Stunden in Pubs verbracht, über wacklige, bierverschmierte Tische gebeugt, schreibend, an Bierdeckeln rupfend, während ich meine Helden aus tiefer Armut zu Berühmtheit oder umgekehrt aus Herrenhäusern in die Gosse geführt habe. Allein, immer allein. Nicht zu viel trinkend, aber doch mit einem Bier vor mir. Eine Zigarette in der rechten Hand und ein oder zwei Brandflecken auf der linken Manschette. Diese Karikatur meiner selbst, die in Londoner Kneipenecken Bücher schreibt und mich so ärgert, dass ich auf Nachfragen immer wieder wie ein gereiztes Pferd hochgehe und loswiehere, wenn sie aufs Neue hervorgeholt wird, ist tatsächlich nicht ganz falsch. Der Lärm eines vollen Pubs ist unendlich freundlicher als die Stille eines leeren Hauses.
    »Ja, Sir?«, fragte der derb wirkende Mann, der in Hemdsärmeln hinter der Theke stand und mit einem Lappen die Rinnsale verschütteten Biers darauf wegwischte. »Was kann ich für Sie tun?«
    Ich ließ den Blick über die Bierhähne gleiten, auf denen einige mir unbekannte Namen standen, vielleicht von örtlichen Brauereien, und suchte mir eins aus.
    »Ein großes, Sir?«
    »Ja, bitte«, sagte ich und sah zu, wie er ein Glas aus dem Regal hinter sich nahm, es ganz unten fasste und gegen das Licht hielt, um sich zu vergewissern, dass keine Fingerabdrücke oder Staubflecken darauf waren, es im exakt richtigen Winkel unter den Hahn hielt und vollzuzapfen begann. In seinem dicken Bart hingen Kuchenkrümel, die ich gleichzeitig angewidert und fasziniert anstarrte.
    »Sind Sie der Inhaber?«, fragte ich nach einer Weile.
    »Das bin ich, Sir«, sagte er lächelnd. »John Clayton. Kennen wir uns?«
    »Nein, nein«, sagte ich, während ich ein paar Münzen aus der Hosentasche fingerte. Jetzt konnte ich mich entspannen.
    »Sehr gut, Sir«, sagte er, stellte das Bier vor mich hin und dachte sich offenbar weiter nichts wegen meiner Frage. Ich bedankte mich und ging hinüber in eine halb leere Ecke des Pubs, wo ich den Mantel auszog und mich mit einem tiefen Seufzer auf einen Stuhl sinken ließ. Vielleicht war es nur gut so, dass mein Zimmer noch nicht frei gewesen war, dachte ich und betrachtete das dunkelbraune Ale, das sich im Glas vor mir setzte. Winzige Bläschen stiegen nach oben auf, und der Schaum zwinkerte mir zu, während ich mir die wohltuende Befriedigung vorstellte, die mir der erste Schluck bescheren würde. Ich könnte hier den ganzen Abend sitzen, dachte ich. Ich könnte mich betrinken und ausfällig werden. Vielleicht verhaften sie mich dann, und ich lande in einer Zelle und werde morgen früh mit dem ersten Zug zurück nach London geschickt. Dann bliebe mir das alles erspart. Die ganze Sache wäre mir aus den Händen genommen.
    Ich seufzte noch einmal tief, tat meine Überlegung ab und holte mein Buch aus der Tasche. Einen Moment lang betrachtete ich den Umschlag und genoss das Gefühl von Sicherheit, das mir ein Bündel aufgebundener Seiten stets vermittelt. An jenem Montag mitten im September des Jahres 1919 las ich gerade Wolfsblut von Jack London. Mein Blick heftete sich auf die Illustration des Umschlags, den Umriss eines jungen Wolfs, der witternd die Nase reckt, während die Schatten der Bäume hinter ihm einen Weg tief
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