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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Autoren: John Boyne
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mich nicht gerufen«, sagte der Junge zu seiner Mutter. »Was hast du ihm erzählt?«
    »Ich habe ihm gar nichts erzählt«, erwiderte sie und sah mich mit einer Miene an, die ahnen ließ, dass sie in Tränen ausbrechen würde, wenn sie noch länger bedrängt wurde. »Ich wusste doch nicht, was ich sagen sollte.«
    »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Mr Sadler«, sagte der Junge und wandte sich mir mit einem wissenden Lächeln zu, als wollte er nahelegen, dass er und ich aus einem Holz waren und wir beide wussten, dass in dieser Welt nichts funktionierte, wenn wir es den Frauen überließen und uns nicht persönlich darum kümmerten. »Ich hatte gehofft, Sie selbst begrüßen zu können, und Ma gebeten, mich gleich zu rufen. Wir hatten Sie früher erwartet, richtig?«
    »Ja«, sagte ich und erklärte, dass sich der Zug verspätet habe. »Und jetzt bin ich sehr müde und hatte gehofft, gleich in mein Zimmer zu können.«
    »Natürlich, Sir«, sagte der Junge, schluckte leicht und starrte auf den Empfangstresen, als könnte er seine gesamte Zukunft in dem Holz erkennen. Als sähe er dort in der Maserung das Mädchen, das er einmal heiratete, die Kinder, die sie bekommen würden, und das ganze keifende Elend, das sie übereinander bringen sollten. Seine Mutter fasste ihn sanft beim Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr, aber er schüttelte heftig den Kopf und fuhr sie an, still zu sein. »Das Ganze ist ein fürchterliches Durcheinander«, sagte er, hob die Stimme und wandte sich erneut an mich. »Sie sollten die Nummer vier beziehen, verstehen Sie. Aber ich fürchte, die Vier ist noch leicht indisponiert.«
    »Könnte ich dann vielleicht eines der anderen Zimmer bekommen?«, fragte ich.
    »O nein, Sir«, antwortete er. »Nein, die sind alle belegt, fürchte ich. Für Sie war die Nummer vier. Aber die ist noch nicht fertig, das ist das Problem. Wenn Sie uns etwas Zeit geben könnten?«
    Er trat jetzt hinter der Rezeption hervor, und ich bekam ihn besser in den Blick. Auch wenn er nur ein paar Jahre jünger war als ich, wirkte seine ganze Erscheinung doch eher wie die eines Kindes, das einen Erwachsenen spielte. Er trug eine Männerhose, die ihm zu lang und deshalb unten an den Beinen mit einer Nadel abgesteckt worden war, und dazu ein Hemd mit Krawatte und Weste, wie es auch zu einem weit älteren Mann gepasst hätte. Ansätze eines Schnauzbarts zeichneten eine ängstliche Linie auf seine Oberlippe, und einen Moment lang hätte ich nicht zu sagen vermocht, ob es sich tatsächlich um einen Haarflaum oder einfach nur um einen Schmutzstreifen handelte, der bei der Morgenwäsche übersehen worden war. Trotz aller Versuche, älter auszusehen, waren die Jugend und Unerfahrenheit meines Gegenübers offensichtlich. Er hätte nicht mit dem Rest von uns da draußen sein können, da war ich sicher.
    »David Cantwell«, stellte er sich endlich vor und hielt seine Hand in meine Richtung.
    »Es geht einfach nicht, David«, sagte Mrs Cantwell und wurde vor Ereiferung ganz rot. »Der Herr wird heute anderswo übernachten müssen.«
    »Und wo, bitte, soll er unterkommen?«, fragte der Junge mit erhobener Stimme und klang so, als fühlte er sich ungerecht behandelt. »Du weißt, dass alles voll ist. Wohin soll ich ihn also schicken? Ich habe keine Ahnung! Zu Wilsons? Voll! Zu den Dempseys? Voll! Den Rutherfords? Voll! Wir haben eine Verpflichtung, Ma. Wir haben Mr Sadler gegenüber eine Verpflichtung, und die müssen wir einhalten, sonst blamieren wir uns. Reicht es denn für heute noch nicht?«
    Sein unvermittelter Ausbruch überraschte mich, und ich bekam eine Ahnung davon, was es für zwei so gegensätzliche Seelen bedeuten musste, in dieser Pension zusammenzuleben. Eine Mutter und ihr Junge, die seit seiner Kindheit allein waren, weil der Vater, entschied ich, vor langen Jahren bei einem Unfall mit einer Dreschmaschine umgekommen war. Der kleine David war damals zu jung gewesen, als dass er sich heute noch an seinen Vater erinnern konnte, verehrte ihn aber dennoch und hatte seiner Mutter nie wirklich vergeben, dass sie den armen Mann jede gottgegebene Stunde zum Arbeiten geschickt hatte. Und dann war der Krieg gekommen, und er war zu jung gewesen, um mitkämpfen zu dürfen. Er hatte sich freiwillig gemeldet, aber sie hatten ihn nur ausgelacht. Einen tapferen Jungen hatten sie ihn genannt und gesagt, er solle wiederkommen, wenn er ein paar Haare auf der Brust hätte, falls dieser verdammte Krieg dann noch nicht vorbei sei. So blieb
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