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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Autoren: John Boyne
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ins Herz der Berge andeuten, beschienen vom Licht des Vollmondes. Ich öffnete das Buch an der Stelle, wo mein Lesezeichen steckte, warf aber, bevor ich zu lesen begann, noch einen Blick auf die Titelseite und die Widmung: Für meinen alten Kumpel Richard, stand dort mit schwarzer Tinte geschrieben, die Buchstaben elegant und wohlgerundet, der genauso ein räudiger alter Köter ist wie Wolfsblut selbst. Jack. Ich hatte den Roman ein paar Tage zuvor auf einem Tisch vor einer der Buchhandlungen in der Charing Cross Road gefunden, und erst als ich ihn zu Hause aufschlug, war mir die Widmung aufgefallen. Der Buchhändler hatte mir nur einen Halfpenny für das Buch abgenommen, was mich annehmen ließ, dass er die Worte drinnen ebenfalls übersehen hatte. Ich jedenfalls hielt sie für eine wunderbare Dreingabe, obwohl ich natürlich nicht sagen konnte, ob der »Jack«, der sie geschrieben hatte, der Jack war, der auch als Autor darüber stand, aber mir gefiel der Gedanke, dass es so sein könnte. Einen Augenblick lang fuhr ich mit dem rechten Zeigefinger, dessen ungleichmäßiges Zittern mir immer wieder solche Schwierigkeiten machte, über die Buchstaben und stellte mir vor, wie der Stift des berühmten Autors seine Tinte auf der Seite hinterließ. Aber statt sich durch die Literatur heilen zu lassen, wie ich es mir in meiner jugendlichen Fantasie ausmalte, zuckte mein Finger noch mehr als gewöhnlich, und ich zog ihn rasch zurück.
    »Was lesen Sie da?«, fragte eine Stimme ein paar Tische weiter, und ich drehte mich zu ihr hin und sah einen Mann mittleren Alters in meine Richtung blicken. Ich war überrascht, dass mich jemand ansprach, und hielt das Buch in seine Richtung, sodass der Mann den Titel lesen konnte, statt einfach seine Frage zu beantworten. »Davon habe ich noch nie gehört«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Ist es gut?«
    »Sehr gut«, sagte ich. »Großartig, um genau zu sein.«
    »Großartig?«, wiederholte er und lächelte ganz leicht. Das Wort klang aus seinem Mund unvertraut. »Nun, dann werde ich es mir wohl besorgen müssen, wenn es großartig ist. Ich habe immer schon viel gelesen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze? Oder warten Sie auf jemanden?«
    Ich zögerte. Ich hatte gedacht, allein sein zu wollen, doch das Angebot dieses Mannes, mir Gesellschaft zu leisten, machte mir bewusst, dass es mir eigentlich egal war.
    »Aber bitte doch«, sagte ich und deutete auf den Platz mir gegenüber, und der Mann kam und stellte sein halb leeres Glas auf den Tisch zwischen uns. Er trank ein dunkleres Bier als ich und brachte einen abgestandenen, von einem langen, harten Arbeitstag zeugenden Schweißgeruch mit sich. Seltsamerweise fand ich ihn nicht unangenehm.
    »Miller ist mein Name«, sagte er. »William Miller.«
    »Tristan Sadler«, erwiderte ich und schüttelte ihm die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
    »Ebenso«, sagte er. Er musste um die fünfundvierzig sein. Etwa so alt wie mein Vater. Obwohl er mich ganz und gar nicht an meinen Vater erinnerte, denn er war schlank gebaut und machte einen netten, nachdenklichen Eindruck. Mein Vater war das genaue Gegenteil. »Sie kommen aus London, stimmt’s?«, fragte er und ließ den Blick über mich gleiten.
    »Ja, richtig«, sagte ich mit einem Lächeln. »Ist das so offensichtlich?«
    »Ich kenn mich mit Stimmen aus«, antwortete der Mann. »Ich kann den meisten Leuten auf zwanzig Meilen genau sagen, wo sie aufgewachsen sind. Die Frau sagt, das ist ein hübscher Partytrick, aber ich seh das nicht so. Für mich ist es mehr als nur ein Gesellschaftsspiel.«
    »Und wo bin ich aufgewachsen, Mr Miller?«, fragte ich und wollte mich gerne unterhalten lassen. »Können Sie das sagen?«
    Er verengte die Augen, sah mich an und blieb fast eine Minute stumm. Nur sein schweres Atmen durch die Nase war zu hören, bis er den Mund wieder öffnete und vorsichtig sagte: »Ich würde denken, Chiswick. Kew Bridge. Irgendwo da. Habe ich recht?«
    Ich lachte überrascht auf. »Chiswick High Street«, sagte ich. »Mein Vater hat dort eine Metzgerei. Da sind wir aufgewachsen.«
    »Wir?«
    »Meine jüngere Schwester und ich.«
    »Aber Sie wohnen jetzt hier? In Norwich?«
    »Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich wohne in London. In Highgate.«
    »Das ist ein ganzes Stück von Ihrer Familie entfernt.«
    »Ja«, sagte ich. »Ich weiß.«
    Hinter der Theke fiel ein Glas zu Boden, und das Zerbersten in unzählige Einzelteile ließ
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