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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier
Autoren: David Brooks
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Erwerbs von Fachkenntnissen aufgebaut, während sie die moralischen und emotionalen Fähigkeiten vernachlässigt. Kindern wird beigebracht, wie sie Tausende von schulischen Hürden nehmen – dabei drehen sich die mit Abstand wichtigsten Entscheidungen in unserem Leben um die Wahl unserer Partner und Freunde, die Objekte unserer Zu- und Abneigung und die Frage, wie wir unsere Impulse kontrollieren können. In dieser Hinsicht sind wir jedoch fast vollständig uns selbst überlassen. Es fällt uns leicht, über materielle Anreize zu sprechen, über Emotionen und Intuitionen dagegen reden wir nur ungern. Wir verstehen uns gut darauf, Fachkenntnisse zu vermitteln, aber zu den wichtigsten Dingen wie Charakter und Persönlichkeit fällt uns so gut wie nichts ein.
    Ein weiteres Ziel
    Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse vermitteln uns ein umfassenderes Bild der menschlichen Natur. Aber ich gestehe, dass mich dieses Thema auch deshalb interessierte, weil ich mir Antworten auf ganz konkrete praktische Fragen erhoffte. Hauptberuflich schreibe ich Artikel zu politischen Themen. Nun haben wir im Verlauf der letzten Generationen erlebt, dass große politische Projekte enttäuschende Ergebnisse zeitigten. Seit 1983 wurde das Bildungssystem in den USA immer wieder reformiert, und obwohl alle rationalen Anreize dagegen sprechen, bricht noch immer ein Viertel der Highschool-Schüler die Schule ab. Wir haben erfolglos versucht, die Kluft zwischen Schwarz und Weiß bei den schulischen Leistungen zu schließen. Wir bemühen uns seit 25 Jahren, mehr junge Leute für eine College-Ausbildung zu gewinnen, ohne herauszufinden, weshalb so viele vorzeitig abgehen.
    Ich könnte fortfahren: Wir haben halbherzig versucht, die wachsende Ungleichheit zu vermindern. Wir haben uns bemüht, die wirtschaftliche Mobilität zu steigern. Wir wollten die rasante Zunahme alleinerziehender Eltern eindämmen. Wir hatten das Ziel, die parteipolitische Polarisierung in den USA zu mildern. Wir haben uns bemüht, die starken konjunkturellen Ausschläge zu glätten. In den letzten Jahrzehnten hat die Welt versucht, den Kapitalismus nach Russland zu exportieren, im Nahen Osten die Demokratie zu verankern und die Entwicklung in Afrika anzukurbeln. Aber die Ergebnisse dieser zahlreichen Bemühungen sind größtenteils enttäuschend.
    Die Misserfolge haben alle eine gemeinsame Ursache: eine zu stark vereinfachende Vorstellung von der menschlichen Natur. Viele dieser Strategien basierten auf dem oberflächlichen sozialwissenschaftlichen Modell menschlichen Verhaltens. Viele wurden von weltfremden Experten vorgeschlagen, die sich nur mit mess- und quantifizierbaren Merkmalen und Korrelationen wohlfühlen. Sie wurden von gesetzgebenden Körperschaften verabschiedet, die keine Ahnung von den tiefen Beweggründen des menschlichen Verhaltens haben. Und schließlich wurden sie von Beamten umgesetzt, die praktisch keine Ahnung von Psychologie und von den veränderlichen und unveränderlichen Aspekten menschlichen Verhaltens haben. Natürlich sind sie gescheitert. Und sie werden auch weiterhin scheitern, solange die neuen Erkenntnisse über Aufbau und Funktionsweise unserer Psyche nicht in umfassenderem Maße Eingang in die politische Willensbildung finden; solange das Märchen nicht mit der prosaischen Geschichte zusammen erzählt wird.
    Der Plan
    Ich möchte veranschaulichen, wie unbewusste Fähigkeiten wirken und wie sie, unter den richtigen Umständen, der menschlichen Selbstentfaltung förderlich sind. Dafür werde ich in stilistischer Hinsicht in die Fußstapfen von Jean-Jacques Rousseau treten. Im Jahr 1760 beendete Rousseau ein Buch mit dem Titel Émile, in dem er sich mit der Frage nach der optimalen Erziehung des Menschen befasste. Statt sich auf eine abstrakte Beschreibung der menschlichen Natur zu beschränken, erschuf er eine Kunstfigur namens Émile und stellte ihr einen Erzieher zur Seite; anhand der pädagogischen Beziehung dieser beiden zeigte er, wie sich die Anlagen und Fähigkeiten des Einzelnen konkret ausbilden und fördern lassen. Rousseaus innovative Romankonstruktion eröffnete ihm viele Möglichkeiten: Sie ermöglichte es ihm, das Ganze auf eine für den Leser sehr unterhaltsame Weise zu schreiben. Sie half ihm zu veranschaulichen, wie sich allgemeine Tendenzen in individuellen Lebensläufen niederschlagen. Und schließlich brachte sie ihn weg von der Abstraktion und hin zum Konkreten.
    Auch wenn ich es nicht mit Rousseaus Genie aufnehmen kann,
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