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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier
Autoren: David Brooks
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übernehme ich doch seine Methode. Um zu illustrieren, wie sich die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse auf das wirkliche Leben übertragen lassen, habe auch ich zwei Kunstfiguren erfunden – Harold und Erica –, deren fiktiven Lebensläufe ich hier nachzeichnen werde. Die Geschichte spielt in der Gegenwart, am Anfang des 21. Jahrhunderts, weil ich verschiedene Aspekte unserer heutigen Lebensweise beschreiben will. Ich folge dabei ihrem Weg von der Geburt zur Ausbildung, von der Freundschaft zur Liebe, von der Arbeit zur Weisheit und dann weiter bis ins hohe Alter. Am Beispiel dieser beiden Figuren will ich aufzeigen, wie Gene individuelle Entwicklungsvorgänge beeinflussen, wie sich neurochemische Prozesse im Gehirn im Einzelfall auswirken und wie die Familienstruktur und kulturelle Muster die Persönlichkeitsentwicklung prägen. Kurzum, ich benutze diese Figuren, um die Kluft zu überbrücken zwischen den allgemeinen Mustern, die Wissenschaftler beschreiben, und den individuellen Erfahrungen, die das wirkliche Leben ausmachen.
    Verbundenheit
    Harold und Erica haben sich im Lauf ihres Lebens ständig weiterentwickelt. Das ist einer der Gründe, warum diese Geschichte so erfreulich ist: Sie erzählt von den ungeahnten Entwicklungsmöglichkeiten, die in uns allen schlummern. Sie handelt von Menschen, die von ihren Eltern und Großeltern lernen und die, nachdem sie Schwierigkeiten und Prüfungen gemeistert haben, eine enge, vertrauensvolle Bindung zueinander aufbauen.
    Schließlich ist dies auch eine Geschichte über unsere Verbundenheit mit anderen. Denn wenn man sich das Unbewusste etwas genauer ansieht, beginnen die Grenzen zwischen Individuen zu verschwimmen. Die Kräfte, die unsere Persönlichkeit formen, sind auch in anderen Menschen am Werk. Wir werden, wer wir sind, in enger Verbindung mit anderen, die sich ebenfalls entwickeln.
    Wir verstehen uns selbst von jeher als Homo sapiens, als vernunftbegabte Wesen, die aufgrund ihres überlegenen Denkvermögens eine Sonderstellung unter den Tieren einnehmen. Das ist der Mensch, wie ihn Rodins Plastik Der Denker zeigt – das Kinn auf die Faust gestützt, in Gedanken versunken, für sich allein. In Wirklichkeit aber unterscheiden wir uns durch unsere überragenden sozialen Fähigkeiten von den anderen Tieren: Wir können unterrichten, lernen, Mitgefühl empfinden, uns in andere hineinversetzen, und wir können Kulturen, Institutionen und das komplexe geistige Gerüst von Zivilisationen aufbauen. Wer sind wir? Wir gleichen mentalen Großbahnhöfen. Wir sind Knotenpunkte, in denen jede Sekunde Millionen von Empfindungen, Emotionen und Signalen miteinander in Wechselwirkung stehen und sich gegenseitig durchdringen. Wir sind Kommunikationszentren, und auch, wenn wir manche Prozesse nicht einmal annähernd verstehen, besitzen wir die Fähigkeit, diesen Datenverkehr teilweise zu steuern – unsere Aufmerksamkeit von einem Inhalt auf den anderen zu lenken, eine Auswahl vorzunehmen und uns zu konzentrieren. Erst durch das sich ständig anreichernde Wechselspiel unserer Netzwerke werden wir ganz wir selbst. Mehr als nach allem anderen streben wir danach, tiefere und umfassendere Beziehungen aufzubauen.
    Bevor ich mit der Geschichte von Harold und Erica beginne, will ich Sie daher mit einem weiteren Paar, einem wirklichen Paar bekannt machen, nämlich Douglas und Carol Hofstadter. Douglas ist Professor an der Indiana University. Er und Carol haben sich leidenschaftlich geliebt. Sie veranstalteten gern Abendgesellschaften und wenn sie anschließend zusammen das Geschirr spülten, ließen sie die Gespräche, die sie gerade geführt hatten, noch einmal Revue passieren.
    Dann starb Carol an einem Hirntumor. Ihre beiden Kinder waren damals fünf und zwei Jahre alt. Ein paar Wochen später stieß Hofstadter auf ein Foto von ihr. In seinem Buch I Am a Strange Loop schrieb er darüber:
    Ich sah in ihr Gesicht und sah so tief in sie hinein, dass ich das Gefühl hatte, hinter ihren Augen zu sein, und urplötzlich hörte ich mich sagen, als die Tränen flossen: ›Das bin ich! Das bin ich!‹ Und diese einfachen Worte riefen mir viele frühere Gedanken in Erinnerung, über die Verschmelzung unserer Seelen zu einer höheren Einheit, über die Tatsache, dass wir im Kern unserer beider Seelen die gleichen Hoffnungen und Träume für unsere Kinder hegten, darüber, dass diese Hoffnungen keine getrennten oder unterschiedlichen Hoffnungen waren, sondern lediglich eine Hoffnung, die uns
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