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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier
Autoren: David Brooks
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glücklichen Menschen aus der Perspektive dieses rätselhaften Innenlebens erzählen.
    Meine Ziele
    Ich will Ihnen zeigen, wie dieses unbewusste System aussieht, wenn es reibungslos funktioniert, wenn die Gefühle der Zu- und Abneigung, die uns Tag für Tag leiten, angemessen kultiviert und andere Emotionen in geeigneter Weise ausgebildet wurden. Anhand zahlloser konkreter Beispiele will ich veranschaulichen, wie das Bewusstsein und das Unbewusste in Wechselwirkung miteinander stehen, wie ein kluger General seine Kundschafter ausbildet und auf ihre Nachrichten hört. Die zentrale evolutionäre Wahrheit über die menschliche Psyche lautet, dass wir weitgehend vom Unbewussten gesteuert werden. Die zentrale humanistische Erkenntnis lautet, dass das Bewusstsein das Unbewusste beeinflussen kann.
    Ich schreibe dieses Buch aus mehreren Gründen. Erstens: Forscher der unterschiedlichsten Fachrichtungen haben zwar diverse Teile der Höhle des Unbewussten gewissermaßen mit Blitzlichtern ausgeleuchtet und dabei zahlreiche Winkel und Löcher zum Vorschein gebracht, doch einen Großteil ihrer Studien haben sie im akademischen Elfenbeinturm durchgeführt. Ich werde versuchen, ihre Befunde hier in einer Erzählung zusammenzuführen.
    Zweitens: Ich möchte versuchen zu beschreiben, wie diese Forschungsarbeiten unser Verständnis der menschlichen Natur verändern. Die Hirnforschung bringt in der Regel keine neuen Philosophien hervor, aber sie bestätigt manchmal ältere philosophische Anschauungen. Die Studien, die heute durchgeführt werden, erinnern uns daran, dass Emotionen vergleichsweise wichtiger sind als die reine Vernunft, dass soziale Einbindung wichtiger ist als individuelle Entscheidungen, Charakter mehr zählt als der IQ , dass emergente, organische Systeme weitaus häufiger sind als lineare, mechanistische Systeme und dass vieles dafür spricht, dass wir nicht nur ein Selbst, sondern mehrere »Selbste« haben. Will man die philosophischen Konsequenzen auf einen einfachen Nenner bringen, könnte man sagen, dass die französische Aufklärung, in der die Vernunft eine zentrale Rolle spielte, verliert, während die britische Aufklärung, die den Empfindungen einen hohen Stellenwert einräumte, den Sieg davonträgt.
    Drittens: Ich will die gesellschaftlichen, politischen und moralischen Konsequenzen dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse darlegen. Freuds Konzeption des Unbewussten wirkte sich nachhaltig auf die Literaturtheorie, die Soziologie und auch auf die politische Analyse aus. Heute verfügen wir über eine noch präzisere Konzeption des Unbewussten. Aber die neuen Erkenntnisse haben sich noch nicht im sozialwissenschaftlichen Diskurs niedergeschlagen.
    Zu guter Letzt will ich mithelfen, eine Einseitigkeit in unserer Kultur zu korrigieren. Unser Bewusstsein schreibt die Autobiografie der Gattung Mensch. Und da es nichts von den unbewussten Prozessen tief im Innern der Psyche mitbekommt, glaubt es, selbst das Steuer in der Hand zu haben. So hält sich das Bewusstsein die Ausführung aller möglichen Aufgaben zugute, die sich in Wahrheit aber seiner Kontrolle entziehen. Es bringt Weltanschauungen hervor, die jene Elemente betonen, auf die es Zugriff hat, den Rest klammert es aus.
    Infolgedessen haben wir uns an eine etwas einseitige, eingeschränkte Sicht und Beschreibung des menschlichen Daseins gewöhnt. Platon hielt die Vernunft für den zivilisierten Teil der Psyche, und er glaubte, wir seien glücklich, solange die Vernunft die primitiven Leidenschaften in Schach hält. Rationalistische Denker sahen in der Logik die höchste Form der Intelligenz, und sie waren der Überzeugung, dass die Menschheit in dem Maße von den Fesseln der Irrationalität befreit würde, wie die Vernunft über altüberlieferte Gewohnheiten und Aberglauben obsiegte. Im 19. Jahrhundert verkörperte der Wissenschaftler Dr. Jekyll die Vernunft, während der grausame Mr. Hyde für das Unbewusste stand.
    Viele dieser Überzeugungen sind verschwunden, aber zahlreiche Menschen wollen noch immer nicht wahrhaben, wie unbewusste Zu- und Abneigungen unser tägliches Leben beeinflussen. Wir haben noch immer Zulassungsausschüsse, die Personen nach ihren IQ -Werten statt nach ihren praktischen Fähigkeiten beurteilen. Es gibt nach wie vor wissenschaftliche Disziplinen, in denen Menschen als rationale Individuen, die nach Nutzenmaximierung streben, betrachtet werden. Die moderne Gesellschaft hat einen riesigen institutionellen Apparat zur Förderung des
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