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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind
Autoren: Sandra Luepkes
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hinauf und dann links. Geh doch schon mal vor, ich warte auf Rieger und Co., und wenn die ihre weißen Plastikanzüge übergeworfen haben, komme ich zu dir.»
    Wencke nickte nur.
    Meint blickte besorgt. «Alles klar, Wencke? Du bist blasser als der Tote hier.»
    «Alles klar so weit.» Sie ging durch die schief in den Angeln hängende Tür hinaus. Draußen war es zum Glück wärmer als im kühlen Lager. Meine Güte, war der Winter schnell vergangen. Es war heute fast dasselbe Wetter wie am Tag von Emils Geburt, als sie sich mit Axel Sanders auf den Weg ins Krankenhaus gemacht hatte. Eine helle Sonne, ein blauer Himmel, wenige Bauschwolken, Friedefreudeeierkuchenwetter. Trotzdem lag unweit hinter ihr ein toter Mann in einem scheußlichen Schuppen.
    Zwei Welten so nah beieinander. Nie war Wencke die Diskrepanz zwischen dem, was sie im Job zu sehen bekam, und dem, was sie sonst um sich hatte, so deutlich geworden wie in diesem Moment. Es lag alles an dem Kind. Emil hatte ihr Leben aufgewühlt. Nie wieder würde sie so unbefangen an Mordfälle herangehen können wie vor ihrem Mutterdasein.
    Wencke ging in die Richtung, die Meint ihr beschrieben hatte. Da das Wetter seit einigen Wochen ausnahmslos sonnig gewesen war, war der ungepflasterte Weg hellbraun und fest. Im regennassen Zustand musste er unbefahrbar sein, Schlaglöcher und die Wadis ausgetrockneter Rinnsale zeugten davon. Feiner Sand legte sich auf ihre Schuhe, und bei jedem Schritt fabrizierten Wenckes Sohlen kleine Wolken aus Staub. Zwischen den hellgrünen Blättern der Bäume hindurch konnte sie das gewaltige Backsteinhaus erkennen, in dem die Familie Helliger lebte oder – besser – residierte. Jeder in Aurich und Umgebung kannte den Namen Helliger. Er war fest verknüpft mit dem Zusatz die Moorkönige, denn die Familie gehörte schon seit mehr als einem Jahrhundert zu den hiesigen Großgrundbesitzern, die sich mit dem Abbau von Torf ein mehr als imposantes Finanzpolster geschaffen hatten, auf dem sie sich jetzt ausruhten. Zumindest lauteten so die Gerüchte. Insbesondere in Moordorf fiel Reichtum auf. Die Mehrzahl der Bevölkerung zählte zu den Geringverdienern, wenn sie nicht sogar arbeitslos war. In dieser Umgebung stach er hervor, der Gutshof der Heiligers, ungewöhnlich groß und chic, wie er war, machte er sich zwischen den geduckten Bauernkaten und den stillosen Einfamilienhäusern in der Nachbarschaft breit.
    So nah wie heute war Wencke dem Heiliger-Hof nie gekommen, normalerweise fuhr sie lediglich in Sichtweite daran vorbei, wenn sie mit dem Fahrrad zum Biobauern unterwegs war. Doch neugierig war sie schon immer darauf gewesen. Der Hof wirkte wie eine Filmkulisse, zu malerisch, um Wirklichkeit zu sein. Manchmal hatte Wencke gedacht, er sei vielleicht nur eine Pappfassade im flachen Land. Doch nun stand sie im Garten und konnte sich aus nächster Nähe davon überzeugen, dass das Haus dreidimensional und real war. Es hatte im Bereich des Wohnhauses mannshohe Fenster, die in ein weißes Sprossenmuster aus Rechtecken und Kreisen unterteilt waren. Das Dach war reetgedeckt und reichte an dem Teil, der früher als Stall gedient haben mochte, tiefer hinunter. Üppige Blumen quollen aus den gusseisernen Kästen darunter hervor. Der Backstein, der in kunstvollen Varianten zu einer Mauer geschichtet worden war, schien sehr alt zu sein, die Steine waren porös und hatten unterschiedliche Schattierungen. Unter einem Fenster stand stilecht die hellblau gestrichene Holzbank, auf der eine Katze schlummerte.
    Es war still hier, bis auf ein leises, metallenes Quietschen und Scheppern, welches unrhythmisch aus einer Gartenecke neben der angrenzenden Scheune zu hören war. Wencke erkannte einige Windspiele aus Schrott, rostrote Objekte, die mit viel Phantasie als menschliche Gestalten zu erkennen waren.
    Neben dem Scheuneneingang war ein Keramikschild angebracht. «Annegret Helliger – Kunststücke» stand darauf. Sie erinnerte sich, in den «Ostfriesischen Nachrichten» einmal gelesen zu haben, dass die Moorkönigin sich selbst verwirklich hatte und Skulpturen zusammenschweißte. Ihr kam eine Fotografie aus dem «Ostfriesland Magazin» in den Sinn, die eine attraktive Mittvierzigerin mit Schutzbrille und Handschuhen neben einer dieser Metallfiguren gezeigt hatte. Wencke würdigte diese «Kunststücke» keines Blickes, sie hatte eine Aversion gegen Dinge dieser Art. Schließlich war sie in Worpswede groß geworden, einem Künstlernest bei Bremen, in dem ihre
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