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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind
Autoren: Sandra Luepkes
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sie seit Anfang des Monats wieder im Dienst der Polizei Aurich, halbtags nur, aber immerhin. Sie vermisste ihren Sohn Emil schon, wenn sie sich auf den Weg zur Arbeit machte, winkte ihm zu, wenn er am Fenster klebte und die Welt nicht mehr verstand, weil die Mama auf einmal wegfuhr. Zwar hatte sie seit zwei Monaten ein Au-pair-Mädchen aus Serbien, das sich liebevoll um Emil kümmerte, doch das erleichterte den Abschied nur geringfügig. Als sie noch Tag für Tag zu Hause geblieben war, war die Sehnsucht nach ihrem Job ebenso stark gewesen. Vielleicht – hoffentlich – war es jetzt nur eine Sache der Gewohnheit, bis sie beides unter einen Hut bekam, ohne sich ständig zerrissen zu fühlen.
    Britzke hatte sich wieder in seine Studien vertieft: «… nicht älter als fünfundzwanzig … Strangulationsfurche weist starke Einblutungen auf, hat wohl länger gedauert, der arme Kerl … sieht nach Selbstmord aus …»
    «Sieht nach Selbstmord aus?», hakte Wencke nach und trat noch einen Schritt näher an den Leblosen. «Warum sollte sich ein so junger hübscher Kerl in einem solch finsteren Loch freiwillig einen Strick um den Hals legen?»
    «Man merkt, dass du eine zu lange Auszeit gehabt hast, liebe Wencke.» Meint Britzke schaute diesmal nicht auf, als er mit ihr sprach. «Du hast vergessen, dass die Welt voller Verzweiflung ist, auch hier in Ostfriesland. Selbst wenn man hübsch und jung ist, kann es einen umhauen.»
    «Aber wir sind hier in Moordorf!», entgegnete Wencke und biss sich gleich auf die Zunge, weil sie sich zu dieser unbedachten Bemerkung hatte hinreißen lassen.
    «Moordorf, das Land der fliegenden Messer», kommentierte Meint ironisch. «Nur weil wir hier eine der höchsten Kriminalitätsraten in Norddeutschland haben, muss es sich nicht bei jedem unnatürlichen Tod um ein Verbrechen handeln.»
    Er schrieb weiter und sang dabei leise ein Lied, es war ein Kalauer hier in Ostfriesland, die bissige Variante mit der Melodie des traditionellen Bergvagabundenliedes: «Ja wenn die Fahrtenmesser blitzen und die Victorburer flitzen und die Moordorfer greifen an, was kann das Leben Schöneres geben, ich will ein Moordorfer sein.»
    «Wer sich den Mist wohl ausgedacht hat», überlegte Wencke.
    «Das ist eine der wenigen Sachen, die ich nicht weiß. Aber den Text kannte ich schon als kleiner Junge in- und auswendig.» Meint summte weiter.
    Wencke schaute sich um. Die Fläche der Lagerhalle war fast so groß wie ein Fußballfeld, die löchrige Holzdecke, in etwa so hoch wie ein zweigeschossiges Haus, wurde von Stempeln gestützt, die in Form und Farbe alten Galgen glichen. An einem der Balken baumelte das abgeschnittene Stück Seil, es war aus rauer Naturfaser, hellbraun und kratzig. Wencke fasste sich unwillkürlich an den Hals, auch wenn es ein seltsamer Gedanke war, sie würde sich niemals ein solch unbequemes Material aussuchen, sollte sie sich irgendwann einmal erhängen wollen. Und der Junge hier auf dem Boden sah mit seiner weichen, gepflegten Haut auch nicht aus, als sei ihm egal, welche Fasern mit seinem Körper in Berührung kamen. Er trug ein weißes T-Shirt, darüber einen hellblauen Pullover mit V-Ausschnitt, beides schien aus Baumwolle zu sein, dazu eine Jeans aus weichem Denim. Sportmode, praktisch und bequem. Das borstige Seil passte nicht ins Bild. Doch Wencke ahnte, Meint Britzke würde diese intuitiven Gedankengänge ohnehin nicht verstehen, deswegen behielt sie ihr Bauchgefühl für sich, auch wenn es ihr sagte, dass hier kein Selbstmord passiert sein konnte.
    Die Maisonne blitzte durch die fast blinden Scheiben der kleinen Fensterchen, und in ihrem Licht flirrten dicht an dicht winzige Körnchen, dünne Fädchen, Heufasern. Auf dem Boden stand nicht viel herum, ein paar alte Maschinen und Werkzeuge zum Torfstechen, die wahrscheinlich besser verschrottet werden könnten, daneben einige Bretterkästen und Paletten. Es roch nach feuchter Erde und Schimmelpilz.
    «Statt so verdattert herumzustehen, könntest du mit Sebastian Helliger reden. Er hat den Toten gefunden.»
    Wencke zuckte zusammen. Vor ihrer Babypause war sie Meints Vorgesetzte gewesen, und wenn sie in absehbarer Zeit wieder voll ins Berufsleben einstieg, wäre dies wieder der Fall. Trotzdem ließ sie sich von ihm Anweisungen geben, was nun zu tun sei. Hatte sie in den letzten Monaten denn alles verlernt?
    «Meinst du den Moorkönig Helliger?»
    «Ihm gehört diese Halle hier. Er wohnt in dem Haus ein paar Schritte weiter den Weg
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