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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind
Autoren: Sandra Luepkes
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zu beschreiben vermochte. Es war eine Mischung aus Erregung und Resignation. Sie war vierundvierzig, sie empfand sich als leidenschaftliche Frau, doch solch ein Gefühlschaos hatte sie noch nie erlebt. Und nie im Leben hatte sie damit gerechnet, etwas Derartiges überhaupt noch einmal zu spüren. Als Mutter und Ehefrau schaltete man so etwas doch irgendwann aus. Sie hatte ihre Kunst, ihre Skulpturen, eigentlich hätte sie bis vor kurzem schwören können, das reiche ihr an Emotionalität. Und jetzt?
    Annegret zog den Umschlag heraus. Sie hatte eine Skizze auf die Rückseite gemalt. Es war der Entwurf einer neuen Skulptur, die sie gleich morgen beginnen wollte. Ein Mann, ein Lächeln, eine tief gebeugte Gestalt, die sich einerseits abwärts zu bewegen schien, in die Knie sank wie bei einer Unterwerfung. Die aber andererseits über genug Kraft verfügte, sich aufzubäumen, und groß genug war, um alles zu überragen. Sie würde einige Nähte schweißen müssen, zudem hatte sie sich für grobes, dickes Material entschieden, welches nur schwer zu schneiden war. Annegret konnte es kaum erwarten, morgen mit der Arbeit zu beginnen. Es würde kein Modell sein, um das sich die Käufer in ihrem Atelier reißen würden. Doch es würde eines ihrer besten Stücke werden, das wusste Annegret schon jetzt. Bis zur Ausstellungseröffnung nächste Woche wäre es mit Sicherheit noch nicht fertig, aber sie würde es dann später zwischen den anderen Skulpturen auf dem Gelände des Moormuseums unterbringen. Das Motto der Ausstellung – Gestaltenwechsel–Wechselgestalten – passte zweifellos zu dieser Figur. Nahezu unleserlich stand der Name des Objektes links neben den mehrfach übergemalten Umrissen: «Rumänien».
    «Mama, der Thorben ärgert mich», sagte die Stimme ihrer Tochter, die sich unbemerkt neben sie an die Reling gestellt hatte.
    «Henrike, du hast dir keine Jacke übergezogen und wirst dich erkälten, so warm ist es heute nicht.» Sie schob das Kind wieder in den Salon zurück, in dem es muffig roch, weil zu viele Menschen auf einmal mit dem kleinen weißen Schiff unterwegs waren. Einige schauten ihr hinterher. Annegret hatte sich daran gewöhnt, von Blicken verfolgt zu werden, es fiel eben auf, wenn sie mit ihren Kindern unterwegs war. Sie selbst war groß, blond, hatte hellgrüne Augen und sommersprossige Haut. Und Thorben und Henrike waren klein und dunkel. Zu dunkel, um von irgendjemandem für ihre leiblichen Kinder gehalten zu werden. Besonders wenn Sebastian dabei war, der noch größer, heller und blasser war als sie selbst, besonders dann meinte Annegret die Gedanken der Passanten lesen zu können: Adoptiert. Aus Osteuropa. Und manchmal entdeckte sie auch Fragezeichen im Blick: Kann man in Osteuropa nicht Kinder kaufen?
    Selten wurde sie darauf angesprochen. Aber immer wurde ihre Familie neugierig beobachtet.
    Thorben hatte sich aus dem Rucksack einen Riegel Schokolade geklaut, Annegret erkannte es an seinem verlegenen Blick und der Art, wie er die Hände vor ihr versteckte. «Thorben!», sagte sie ernst. «Noch so etwas, und du darfst heute Abend nicht mitfeiern!»
    Sofort war der Junge eingeschnappt. «Das ist unfair, morgen fährt doch Aurel. Außerdem haben wir für ihn ein Geschenk gebastelt. Du hast gesagt, wir sehen ihn vielleicht nie wieder.»
    «Nie wieder ist schrecklich lang», fügte Henrike hinzu.
    Beide Kinder schauten sie traurig an. Sie hatten schwer damit zu kämpfen, dass Aurel nach einem wunderbaren Jahr die Familie wieder verlassen würde. Sie hatten den Au-pair-Jungen gern bei sich gehabt. Und Rumänien war so weit weg.
    Annegret seufzte. «Ja, nie wieder ist schrecklich lang», wiederholte sie und hoffte, die Kinder würden nicht bemerken, dass auch sie diesen Gedanken nicht ertragen konnte.

Im Dachgeschoss eines umgebauten Stalles, Moordorf sonnig
    Das Zimmer des Jungen lag im Stallgebäude über dem Atelier. Es war großzügig geschnitten, mit hochwertigen Kiefernmöbeln ausgestattet und hatte eine Kochnische sowie ein eigenes Badezimmer. Man erkannte, dass der Bewohner dieser Räume nicht mehr lange blieb, es lagen kaum persönliche Dinge herum, nur ein paar Kleidungsstücke über der Stuhllehne, ein halb voller Kasten stilles Mineralwasser in großen Plastikflaschen in der Ecke, ein paar Reisepapiere auf dem Schreibtisch. Wencke dachte an ihr Au-pair-Mädchen Anivia, die nun schon seit zwei Monaten in ihrem ehemaligen Arbeitszimmer lebte, auf einer Ausziehcouch schlief und sich zum
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