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Das singende Kind

Das singende Kind

Titel: Das singende Kind
Autoren: Carmen Korn
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die tote Schwester geschickt hatte. Trudi war lange nicht aus den Augen gelassen worden. Schlief in den Nächten zwischen Vater und Mutter. Ein volles Maß an körperlicher Nähe, ihr so selbstverständlich, daß alles andere für Trudi kaum zu ertragen war. Wenn Georg sie strafen wollte, ließ er sie allein im gemeinsamen Bett und kündigte an, auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer zu schlafen. Die leeren Laken strömten eine Kälte aus, in der Trudi fror, und sie lief Georg nach und flehte ihn an, zurückzukommen. Willens, auf der Stelle zu sterben, oder doch wenigstens sich ihren Tod vorzustellen, falls er ihr nicht folgte.
    Du bist ja hysterisch, sagte Georg dann und genoß die Rolle des Menschen, der das Wohl des anderen in der Hand hat und schon weiß, daß er gleich Gutes tun und ihn von der Qual erlösen wird. Er zögerte es stets noch ein wenig hinaus, ließ Trudi zappeln, um sie schließlich bei der Hand zu nehmen und zum Bett zu führen, sich daneben zu legen und ihr die Schulter anzubieten, und Trudis Kopf sank auf die kühle Baumwolle seines Schlafanzugs.
    Trudi war nach Gertrud Lafleur benannt worden, der Großmutter des Vaters, die, sechsundneunzigjährig, eine Garantin für ein langes Leben zu sein versprach, das die Eltern für das neue Kind beschworen. Die erste Tochter hatte Julie geheißen. Hans Lafleur liebte alles Französische, das ihm Synonym für ein leichteres Leben zu sein schien. Hatten sie es zu leichtgenommen damals? Zum Ärger der Götter? Trudi trug jedenfalls einen teutonischen Namen. Das Mädchen mit dem Speer. Als ob sie es besser wappnen wollten.
    Gertrud Lafleur war nur wenige Tage nach Trudis Taufe gestorben. Trotzdem hatte Trudi all ihre Kinderkrankheiten gut überstanden, keinen Unfall erlitten und lebte mit zweiunddreißig Jahren immer noch ohne die erkennbare Gefahr eines zu frühen Todes.
    Trudi kam erst nach acht Uhr abends zurück. Sie blieb sonst nie länger als sechs, hielt die Zeiten ein wie eine Angestellte, die einer Stechuhr ausgeliefert ist. Sie grabbelte nach dem Schlüssel, der sich in ihre Manteltasche versenkt hatte, und schaute auf die Terrazzosteine vor der Tür. Ihre Leiche wäre wohl abtransportiert, hätte sie den Sprung getan. Ihr war nicht ernst gewesen damit. Nicht mal einen Gedanken lang. Trudi spürte einen Druck im Magen. Nur der Schaschlik und die lauen Zwiebeln, die sie in einem Schnellimbiß in sich hineingeschlungen hatte. Gut, daß sie nicht dick war. Die Schlingerei wäre ihr dann noch peinlicher gewesen.
    Trudi zerrte den Schlüssel aus einem Knäuel von Servietten, die mit Ketchup verklebt waren, und schloß die Haustür auf. Sie konnte hier unten schon das Stakkato von Georgs Schreibmaschine hören, ein Geräusch, das ihr von Stockwerk zu Stockwerk bedrohlicher wurde. Georg arbeitete, und sie hatte getrödelt. Sich den Bauch vollgestopft. Trudi streckte ihren Bauch heraus, legte die Hände darauf und fühlte sich im achten Monat schwanger, und sie brauchte gleich viel mehr Atem für die letzte Treppe.
    Georg zog das Papier aus der Maschine. Trudi hörte es durch die Tür. Das schreckliche Getue um das Manuskript. Sicher hätte sie längst in den Ordner schauen können, wenn er gegangen war, um einzukaufen. Doch sie scheute den Schritt. Weniger aus Achtung vor Georgs Wunsch, es geheimzuhalten. Trudi hatte Angst, er könne dahinterkommen und Vergeltung üben. An ihrem Schrank.
    Sie trat in die Wohnung und sah sich in dem hohen Spiegel, den Bauch so herausgestreckt, daß ihr Rücken hohl war. Scheinschwanger. Die Tür von Georgs Arbeitszimmer wurde aufgerissen. »Warum gibst du keine Antwort?« fragte Georg. Trudi stand wieder gerade, als sie sich zu Georg umdrehte. Sie hatte ihn gar nicht gehört. »Also, wo?« Georg sprach zu hoch. Ein falscher Strich auf der Geige. Trudi kannte die Stimme. »Es tut mir leid«, sagte sie. Das Trödeln. Die Zeit, die sie nicht genutzt hatte.
    »Wo warst du? Mach endlich den Mund auf.«
    Der Schaschlik. Georg durfte nicht davon erfahren. Trudi senkte den Kopf und versuchte den Geruch ihres Mantels aufzunehmen. Doch sie roch nur Rauch. Keine Zwiebeln. Kein Bratenfett.
    »Du riechst nach Zigaretten«, sagte Georg.
    Trudi zuckte die Achseln. »Ich habe nicht geraucht.«
    Georg lachte kurz auf. »Nein«, sagte er.
    Trudi dachte an die Würste, die auf dem Grill gelegen hatten. Weiße Würste, die aufgedunsen aussahen und dann platzten und schnell zu schwarz wurden. Das Zischen und Gurgeln des Fettes, das tropfte.
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