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Das singende Kind

Das singende Kind

Titel: Das singende Kind
Autoren: Carmen Korn
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den Rücken zu. Sie zog die Nase hoch wie eine, die eine ganze Weile geweint hat, doch noch waren ihre Augen trocken.
    »Was ist los?« In Georgs Stimme schwang die Ungeduld. »Fehlen dir die Gesangsstunden? Wir finden was anderes.«
    »Drück mich doch mal«, sagte Trudi, »du sitzt da wie ein Klotz.«
    »Klar«, sagte Georg, »mein kleines Mädchen.« Er stand auf, weitete die Arme und schloß sie darin ein. Eine ungeschickte Umarmung, als wolle er sie in den Schwitzkasten nehmen. Trudi schaute dabei auf die Straße und dachte, wie es wäre, wenn sie da unten läge. Zerschlagen vom Sprung aus dem vierten Stock. Ob Georg schreien würde und weinen? Laut weinen? Georg ließ sie los und gab ihr einen leichten Kuß in den Nacken, und Trudi beschloß, noch wegzugehen.
    »Kein einziger Gedanke, den ich denke, ist neu«, sagte Georg, »alles tausendmal gedacht. Denkst du nicht auch manchmal, daß kein Gedanke in deinem Kopf deiner ist?« Er faßte in sein feines braunes Haar, das sich nach Fohlen anfühlte, und fingerte darin.
    »Nein«, sagte Jos, »denke ich nicht.«
    »Ich denke, daß Trudi mich betrügt«, sagte Georg.
    »Blödsinn. Sie hängt doch immer hier herum.«
    »Ist das dein einziges Argument dagegen?«
    »Hör auf, dir die Haare zu raufen.« Jos lehnte am Tisch und schaute auf Georg herunter, der an der Schreibmaschine saß. Georgs Haar lichtete sich. »Trudi ist treu.«
    »Es stimmt auch nicht, daß sie immer hier herumhängt«, sagte Georg, »sie ist häufiger weg, als sie es zu Zeiten der Dux war.«
    »Ich stimme dir zu, daß es abgedroschen ist, an Betrug zu denken«, sagte Jos, »das ist der einfachste Grund für eine Krise, und so einfach macht ihr es euch nicht.«
    Georg seufzte und begann feine braune Haare von seiner beigefarbenen Wollweste zu lesen.
    »Die Stimmung hier ist doch fürchterlich«, sagte Jos, »euch liegt das Singende Kind auf der Seele.«
    »Trudi kennt es noch immer nicht.«
    »Was soll die Geheimnistuerei?« sagte Jos.
    »Das kann ich ihr nicht antun. All die Bilder von toten und gequälten Kindern. Ihr kommen doch schon die Tränen, wenn sie eine Werbung für Windeln sieht.«
    »Ich sage nichts mehr zu dem Thema.«
    »Nein«, sagte Georg, »was weißt du von Trudis Treue?«
    »Nichts.«
    »Hast du es mal bei ihr versucht?«
    Jos kam schwungvoll von der Kante des Tisches los und ging zum Sofa, um sich drauffallen zu lassen. »Gefallen dir die neuen Zeichnungen?« fragte er.
    »Gib mir eine Antwort.«
    Jos stöhnte. »Ich kenne dich ein halbes Leben«, sagte er, »glaubst du, daß ich mit deiner Frau durchbrenne?«
    »Davon war nicht die Rede.«
    »Daß ich sie in mein reizendes kleines Dachzimmer schleppe und dort schamlos an ihr herumknabbere?«
    »Vergiß es. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«
    »Trudi ist ein Täubchen«, sagte Jos.
    »Ein treues Täubchen«, sagte Georg und gab sich Mühe, heiter auszusehen. »Du wirst mir doch verdächtig in deinem Versuch, ihre Ehre wiederherzustellen.«
    »Die war doch nicht verloren.«
    »Das ist ein Scheingefecht, das uns nur von unserer eigentlichen Arbeit ablenken soll.«
    »Dann höre auf und konzentriere dich. Du bist der Vordenker. Ich zeichne nur deine apokalyptischen Gesänge nach.«
    »Ich weiß gar nicht, ob das eine Apokalypse wird«, sagte Georg, »nicht mal Auschwitz hat die Welt untergehen lassen.«
    »Die gesammelten Leiden der Kinder aus unserem Jahrhundert machen schon was her«, sagte Jos, »ich sehe, wie sie uns das Singende Kind aus den Händen reißen.«
    »Viel Geld wirst du damit nicht verdienen«, sagte Georg.
    »Na, vielleicht setzen sie uns auf die Liste des Deutschen Jugendbuchpreises«, sagte Jos säuerlich.
    Trudi hatte zu den Kindern gehört, die sich die eigene Beerdigung träumen. Der weinende Vater. Die haltlos schluchzende Mutter. Ein Sonnenstrahl, der durch die Wolkendecke dringt, gerade dann, wenn der kleine weiße Sarg in die Erde sinkt. Trudi war kein unglückliches Kind gewesen. Vielmehr dachte sie an die ersten vierzehn Jahre ihres Lebens als die glücklichsten zurück. Geliebt und geborgen. Kein Grund, sich lieber tot zu sehen. Die Tochter von alten Eltern, die zwei Jahrzehnte zuvor ihr erstes Kind verloren hatten, als es einjährig im Bettchen erstickte. Die Schnur einer Spieldose um den Hals, die nicht aufhörte, Wer nur den lieben Gott läßt walten zu spielen, und sich dabei immer enger zuzog.
    Vielleicht verlor Trudi darum nie ihren Sinn für das Tragische, als sei das ein Karma, das ihr
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