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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage
Autoren: Isabel Allende
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schloß, ein kleines, in eine Baumwolldecke gewickeltes Paket. Schicht für Schicht öffnete ich das Bündel und fand ganz innen ein Mädchen, zusammengerollt wie eine Schnecke, von den Knien bis zum Hals in einer viel zu großen Windel und mit einer Haube aus Wolle auf dem Kopf. Aus der Windel ragten zwei faltige Beinchen, zwei Ärmchen wie Zahnstocher und ein perfekter Kopf mit feinen Gesichtszügen und großen, mandelförmigen, dunklen Augen, die mir mit kriegerischer Entschlossenheit entgegenblickten. Sie wog nichts, ihre Haut war trocken, sie roch nach Medikamenten, war weich, reine Zuckerwatte. »Sie ist mit offenen Augen zur Welt gekommen«, sagte die Krankenschwester. Sabrina und ich sahen uns lange Minuten hindurch an, lernten uns kennen. Angeblich sind Kinder in diesem Alter ja fast blind, aber sie hatte schon damals diesen konzentrierten Gesichtsausdruck, der sie auch heute noch auszeichnet. Ich streckte einen Finger aus, um ihr über die Wange zu streichen, und ihre winzige Faust schloß sich mit aller Kraft darum. Als ich merkte, daß sie zitterte, hüllte ich sie wieder in die Decke und preßte sie an mich.
    »In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Kind?« fragte eine junge Frau, nachdem sie sich als die Kinderärztin vorgestellt hatte.
    »Er ist der Großvater«, sagte ich mit einem Blick auf meinen Mann, der schüchtern an der Tür stand und vor Ergriffenheit keinen Ton herausbrachte.
    »Die Untersuchungen zeigen Spuren etlicher Betäubungsmittel im Blutkreislauf der Kleinen. Außerdem ist sie zu früh zur Welt gekommen; ich schätze, im siebten Monat, sie wiegt anderthalb Kilo, und ihr Verdauungsapparat ist nicht vollständig entwickelt.«
    »Sollte sie nicht im Brutkasten sein?« fragte Willie vorsichtig.
    »Wir haben sie heute herausgeholt, weil ihre Atmung normal ist, aber machen Sie sich keine Hoffnungen. Ich fürchte, ihre Chancen stehen nicht gut …«
    »Sie kommt durch!« fiel ihr die Krankenschwester heftig ins Wort, eine majestätische schwarze Frau mit einem Turm aus Zöpfen auf dem Kopf, und dabei entriß sie mir das Kind und begrub es in ihren kräftigen Armen.
    »Odilia, bitte!« ermahnte sie die Ärztin, entgeistert über diesen so wenig professionellen Ausbruch.
    »Ist schon gut, wir haben begriffen, wie es steht«, sagte ich müde zu ihr.
    Mir war keine Zeit geblieben, das Kleid zu wechseln, das ich wochenlang auf der Reise getragen hatte. In einundzwanzig Tagen hatte ich fünfzehn Städte besucht mit einer Tasche, die als Handgepäck durchging und das Allernötigste enthielt, was nach meiner Erfahrung sehr wenig ist. Früh am Morgen bestieg ich ein Flugzeug, kam in der Stadt an, die auf dem Programm stand, wurde von einer Begleiterin erwartet – in aller Regel von einer Frau, die ebenso erschöpft war wie ich – und zu den Presseterminen gebracht. Mittags aß ich ein Sandwich, gab weitere Interviews und duschte dann im Hotel, vor der Veranstaltung am Abend, wenn ich mit geschwollenen Füßen und einem künstlichen Lächeln dem Publikum gegenübertreten und ein paar Seiten aus der englischen Übersetzung meines Romans lesen mußte. Ich hatte ein gerahmtes Foto von dir dabei, das mich in den Hotelzimmern begleiten sollte. Ich wollte mich so an dich erinnern, an dein strahlendes Lächeln, dein langes Haar, deine grüne Bluse, aber wenn ich an dich dachte, waren es andere Bilder, die mich heimsuchten: dein starrer Körper, dein leerer Blick, dein völliges Schweigen. Auch für jemanden, der weniger angeschlagen ist, als ich es damals war,ist ein solcher Werbemarathon ein Schlauch, und ich sah mich selbst von außen wie in einem Traum, durchlief die einzelnen Stationen der Reise mit einem Felsengewicht auf der Brust und verließ mich darauf, daß meine Begleiterinnen mich tagsüber an die Hand nahmen, mir abends bei der Lesung zur Seite standen und mich am nächsten Morgen in aller Frühe am Flughafen ablieferten. Auf dem langen Flug von New York nach San Francisco fand ich etwas Zeit, mir Gedanken über dieses neue Enkelkind zu machen, doch hätte ich mir nicht träumen lassen, wie die Kleine das Leben etlicher Menschen auf den Kopf stellen würde.
    »Sie ist eine Seele aus längst vergangener Zeit«, sagte Odilia, die Krankenschwester, als die Kinderärztin gegangen war. »In den einundzwanzig Jahren, die ich jetzt hier arbeite, habe ich viele Neugeborene gesehen, aber keines wie Sabrina. Ihr entgeht nichts. Ich bleibe bei ihr, auch wenn meine Schicht längst vorbei ist, und bin
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