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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage
Autoren: Isabel Allende
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was es wollte. Sie war zurückhaltend und still, schien immer etwas auszuhecken und hielt sich beim Daumenlutschen an einem Baumwolltuch – ihrem »Tuto« – fest, das sie nie aus der Hand gab. Du hast für Kinder nie etwas übrig gehabt, Paula. Einmal, als du zu Besuch warst und Alejandros Windel wechseln mußtest, gestandst du mir, daß es dich, je mehr du mit deinem Neffen zu tun hattest, desto weniger reizte, Mutter zusein. Andrea hast du nie kennengelernt, aber in der Nacht, als du starbst, schlief sie zusammen mit ihrem Bruder am Fußende deines Betts.

Eine Seele aus alten Zeiten kommt zu Besuch
    Im Mai rief mich Willie in New York an mit der Nachricht, daß Jennifer allen wissenschaftlichen Prognosen und den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit zum Trotz ein Mädchen geboren hatte. Die Wehen waren durch eine starke Dosis Rauschgift ausgelöst worden, und Sabrina kam zwei Monate zu früh zur Welt. Jemand hatte einen Krankenwagen gerufen, und der hatte Jennifer in eine katholische Privatklinik gebracht, wo man nie zuvor jemanden in einem solchen Zustand der Vergiftung gesehen hatte. Es war die nächstgelegene Notaufnahme. Das rettete Sabrina das Leben, denn in der staatlichen Klinik des Armenviertels von Oakland, in dem Jennifer wohnte, wäre sie, gezeichnet von den Drogen im Bauch der Mutter, wie Hunderte anderer Kinder sofort nach der Geburt zum Tod verurteilt gewesen; niemand hätte sich lange mit ihr aufgehalten, dieses winzige Persönchen wäre durch das Raster des überforderten Systems öffentlicher Gesundheitsversorgung gerutscht. So aber fingen die geschickten Hände des Stationsarztes sie auf, als sie in diese Welt gespien wurde, und er sollte der erste werden, den der durchdringende Blick der Kleinen bezauberte. »Sie wird schwerlich durchkommen«, urteilte er, nachdem er sie untersucht hatte, war aber bereits von ihren dunklen Augen in Bann geschlagen und ging nach Dienstschluß am Abend nicht nach Hause. Mittlerweile war auch eine Kinderärztin eingetroffen, und gemeinsam verbrachten sie die halbe Nacht neben dem Brutkasten und beratschlagten, wie sie das Neugeborene entgiften könnten, ohne ihm noch mehr zu schaden, und wie es zu ernähren wäre, denn es schluckte nicht. Um die Mutter kümmerten sie sich nicht, sie hatte die Klinik verlassen, kaum daß sie von der Bahre hatte aufstehen können.
    Ein dumpfer Schmerz zerriß Jennifers Becken, und sie erinnerte sich nicht genau, was geschehen war, nur an die beängstigende Sirene des Krankenwagens, einen langen Gang mit gleißenden Lichtern und an Gesichter, die ihr Anweisungen zubrüllten. Sie glaubte, daß sie ein Mädchen zur Welt gebracht hatte, konnte aber nicht bleiben, um Genaueres herauszufinden. Man hatte sie zum Ausruhen in ein Zimmer gelegt, nach einer Weile machten sich jedoch die ersten Entzugserscheinungen bemerkbar, sie zitterte vor Übelkeit, war schweißgebadet und fühlte sich am ganzen Körper wie elektrisiert; sie zog sich irgendwie an und stahl sich durch einen Personaleingang davon. Als sie ein paar Tage später von der Geburt etwas erholt und durch Drogen ruhiger geworden war, dachte sie an das Kind, das sie zurückgelassen hatte, und wollte hin, es zu holen, aber es gehörte ihr schon nicht mehr. Die Kinderschutzbehörde hatte sich eingeschaltet, und am Arm des Mädchens war eine Apparatur befestigt, die Alarm auslöste, sobald jemand versuchte, mit ihr das Krankenzimmer zu verlassen.
    Ich unterbrach meine Reise in New York und nahm die erste Maschine nach Kalifornien. Willie erwartete mich am Flughafen und fuhr ohne Umweg mit mir in die Klinik; unterwegs erklärte er mir, seine Enkeltochter sei sehr schwach. Jennifer war völlig in ihrer eigenen Hölle gefangen, sie konnte nicht auf sich selbst aufpassen, zu schweigen davon, daß sie sich ihrer Tochter annähme. Sie lebte bei einem Typ, der doppelt so alt war wie sie, seinen Lebensunterhalt mit dubiosen Geschäften verdiente und mehr als einmal hinter Gittern gewesen war. »Bestimmt läßt er Jennifer für sich anschaffen und versorgt sie mit Drogen«, war das erste, was mir dazu einfiel, aber Willie, der viel großherziger ist als ich, war ihm dankbar, daß sie bei ihm wenigstens ein Dach über dem Kopf hatte.
    Wir hasteten die Flure der Klinik hinunter bis zu demSaal, in dem die Frühchen lagen. Die Krankenschwester kannte Willie bereits und deutete mit einem Kopfnicken auf eine kleine Wiege in der Ecke. Es war ein warmer Tag im Mai, als ich Sabrina zum erstenmal in die Arme
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