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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz
Autoren: Anna Seghers
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Westhofen, weil sie ihr Leben lang immer Krimskrams bei sich hatte, nützlichen und unnützen, was man gerade wollte, Heftpflaster und Bindfaden und Hustenbonbons. Jetzt fuchtelte sie mit ihrem dünnen Arm über den Feldweg nach dem Zimthütchen hin, mit dem sie mal früher getanzt, und den sie mal früher beinahe geheiratet hatte, und um ihren zahnlosen Mund, um ihre
    verschrumpelten Bäckchen entstand die schreckliche Lebhaftigkeit, mit der ganz alte Leute schäkern, als höre man gleich die Geripplein beim Tanz klingeln.
     
    Aber das Zimthütchen, als es den fremden, fürchterlich verdreckten Mann, der vielleicht doch zur Essigfabrik gehörte, mit der alten Frau und dem Kind wegtrotten sah, beruhigte sich ganz und gar über irgend etwas, das doch noch in ihm genagt hatte. Georg selbst, hinter den beiden, fühlte sich, wenn auch nur auf Minuten, bei den Lebenden aufgenommen. Aber der Feldweg führte nicht nur nach dem Dorf, wie Georg geglaubt hatte, er gabelte sich in zwei Wege, einen nach dem Dorf, einen nach der Chaussee. Die alte Frau hatte das Zopfband in eine ihrer Rocktaschen gestopft zu all ihrem übrigen Krempel, und sie führte das Kind, das das Weinen verbiß, am Zöpfchen neben sich. Sie brabbelte: »Haben Sie den Spektakel gehört vorhin, ui, ui! Wie das getutet hat. Jetzt ist’s ruhig. Sie haben ihn. Der hat nichts zu lachen. Ui, ui!« Sie kicherte und jammerte. An der Weggabelung blieb sie stehen. »Der Nebel ist auf! Guck!«
     
    Georg sah sich um. Wirklich, der Nebel war gestiegen, rein und klar erglänzte der blaßblaue Herbsthimmel. »Ui, ui«, machte die alte Frau, weil zwei, nein, schon drei Flieger aus dem Himmelblau herabfielen, scharf aufglänzend, und dicht über der Erde, über den Dächern von Westhofen und dem Sumpf und den Feldern, tiefe enge Kreise zogen. Georg ging dicht an der alten Frau, die ihr Enkelkind führte, nach der Chaussee zu.
     
    Sie gingen, ohne jemand zu treffen, zehn Meter auf der Chaussee. Die alte Frau war verstummt. Sie schien alles vergessen zu haben, Georg und das Kind und die Sonne und die Flieger, brütete nach über Sachen, die früher passiert waren, als noch kein Georg geboren war. Georg hält sich ganz dicht, möchte sie gern am Rock festhalten. Wirklich ist das ja nicht, nur im Traum geht er mit der alten Frau, die er am Rock festhält, aber sie merkt es gar nicht. Er wird gleich aufwachen, Lohgerber wird in der Baracke herumbrüllen …
     
    Rechts begann eine lange, mit Scherben besetzte Mauer. Sie gingen ein paar Schritte längs der Mauer, dicht hintereinander, Georg zuletzt. Plötzlich, ohne Hupen, war ihnen ein Motorrad im Rücken. Wenn sich die alte Frau jetzt umdrehte, mußte sie glauben, Georg hätte die Erde verschluckt. Das Motorrad sauste vorbei. »Ui, ui«, grunzte die alte Frau, aber sie trottete weiter; Georg war nicht nur aus ihrem Weg, sondern auch aus ihrem Gedächtnis verschwunden.
     
    Georg lag jenseits der Mauer, seine Hände waren blutig von den Scherben, die linke Hand war unter dem Daumen eingerissen, und auch sein Zeug war eingerissen bis auf das Fleisch.
     
    Ob sie jetzt abstiegen und ihn holten? Aus dem niedrigen Ziegelhaus mit den vielen Fenstern kamen Stimmen, viele helle und tiefe, und dann wieder ein ganzer Chor rascher Knabenstimmen. Welches Wort wollten sie ihm denn noch einprägen, welchen Satz in seiner Todesstunde? Aus der entgegengesetzten Richtung fuhr ein Motorrad an, aber es fuhr vorbei gegen das Lager Westhofen. Georg spürte keine Erleichterung, sondern erst jetzt den Schmerz in der Hand – er hätte sie überm Gelenk abbeißen mögen. Vor der linken Schmalseite des roten Gebäudes, einer landwirtschaftlichen Schule, lag ein Gewächshaus, Haupttür und Treppe lagen auf dieser Schmalseite, dem Gewächshaus gegenüber. Zwischen der Straßenfront der Schule und der Mauer lag ein Schuppen. Georg betrachtete den Schuppen, der ihm die übrige Aussicht versperrte. Er kroch hinüber. Drin war es still und dunkel. Es roch nach Bast. Seine Augen konnten bald die dicken Bastwuschel unterscheiden, die an der Wand hingen, allerlei Geräte, Körbe und Kleidungsstücke. Da jetzt nichts mehr von seinem Scharfsinn abhing, sondern alles nur noch von dem, was man Glück nennt, wurde er kalt und ruhig. Er riß sich einen Fetzen herunter. Er verband sich die linke Hand mit den Zähnen und mit der rechten Hand. Er nahm sich Zeit zu wählen: eine dicke braune Jacke aus Manchestersamt mit Reißverschluß, er stülpte sie über das Zeug
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