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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz
Autoren: Anna Seghers
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machen, dann ist mit dir kein Mann geuzt. Guck mich doch mal an, willst du mich wohl angucken. Wenn du mich so anguckst mit deinen zwei Äugelchen, dann könnt ich da das Mariechen mindestens für ewig vergessen.«
     
    Er sah Sophie nach, als sie mit ihren Tellern davonklapperte, dann rief er: »Nelli!« Das Hündchen sauste ihm gegen die Brust, dann stellte es seine Pfoten auf Ernsts Knie und sah ihn an, ein schwarzes Bündelchen unbedingter Ergebenheit. Ernst stipfte sein eigenes Gesicht gegen die Schnauze, er rieb Nellis Kopf zwischen seinen beiden Händen in einem Anfall von Zärtlichkeit: »Nelli, weißt du auch, wen ich am liebsten hab, weißt du denn auch, Nelli, wie die heißt, die mir am besten gefällt unter allen weiblichen Personen auf der ganzen Welt und in meinem ganzen Bekanntenkreis? Sie heißt Nelli.«
     
    Währenddessen hatte der Schulwart der Darre-Schule Mittag ausgeschellt – fünfzehn Minuten nach dem richtigen Mittag. Der kleine Helwig, ein Gärtnerlehrling, lief zuerst in den Schuppen, um aus dem Portemonnaie seiner Manchestersamtjacke zwanzig Pfennig zu holen. Die war er einem Schüler schuldig für zwei Lose von der Winterhilfslotterie. Das ganze Jahr über hielt die Schule Kurse ab, hauptsächlich für die Söhne und Töchter der Bauern aus den umliegenden Dörfern. Aber die Schule hatte auch ein Versuchsgut, auf dem nicht nur die Schüler arbeiteten, sondern auch ein paar Gärtner und Lehrlinge in den üblichen Verträgen. Der Lehrling Helwig, ein blondes hochgeschossenes Bürschlein mit aufgeweckten Augen, durchsuchte zuerst erstaunt, dann ärgerlich, dann aufgeregt den ganzen Schuppen nach seiner Jacke. Diese Jacke hatte er sich vorige Woche angeschafft, kurz nach seinem ersten Mädchen. Er hätte sie sich noch nicht anschaffen können, wenn er nicht eine kleine Prämie bei einem Wettbewerb verdient hätte. Er rief seine Kameraden herbei, die schon beim Mittagessen saßen. Der helle Speisesaal mit den blank gescheuerten Holztischen war wie immer fast festlich geschmückt mit den Blumen des Monats und mit frischem Laub, das auch um die Hitler-, Darre- und Landschaftsbilder an der Wand gewunden war. Helwig meinte zuerst, die Kameraden hätten ihm einen Streich gespielt. Sie neckten ihn nämlich, weil er die Jacke etwas zu groß gekauft hatte und weil sie ihn um sein Mädchen beneideten. Die jungen Burschen mit ihren frischen, offenen Gesichtern, in denen knabenhafte und männliche Züge genauso durcheinander spielten wie auf Helwigs Gesicht, beruhigten ihn jetzt und halfen ihm gleich suchen. Da gab es denn bald ein Geschrei: »Was sind denn das für Flecke?« Und einer schrie: »Mir hat man das Futter rausgerissen!« – »Da war einer drin«, sagten sie, »deine Jacke, Helwig, ist gestohlen.« Der Junge verbiß das Weinen. Jetzt kam auch die Aufsicht aus dem Eßsaal. Was denn die Bengels hier anstellen? Helwig erzählte bleich vor Wut, seine Jacke sei gestohlen. Man rief einen aufsichtführenden Lehrer und den Schulwart. Jetzt wurde die Tür weit aufgemacht. Da sah man Flecke an den Kleidern und das gerissene Futter an einer alten Jacke, die ganz von Blut verspritzt war.
     
    Ach, wenn man aus seiner Jacke auch nur das Futter herausgerissen hätte! In Helwigs Gesicht waren keine männlichen Züge mehr. Es war ganz kindlich vor Zorn und Kummer. »Wenn ich den finde, schlag ich ihn tot!« verkündete er. Es tröstete ihn auch gar nicht, daß Müller jetzt seine Schuhe vermißte. Der war der einzige Sohn von reichen Bauern und konnte sich neue kaufen. Für ihn aber hieß es jetzt wieder sparen und sparen.
     
    »Beruhige du dich jetzt mal, Helwig«, sagte dann der Direktor selbst, den der Schulwart sofort vom Familienmittagstisch geholt hatte, »beruhige dich und beschreib deine Jacke, so genau du kannst. Dieser Herr hier von der Kriminalpolizei kann sie dir nur wieder beschaffen, wenn du sie genau beschreibst.« – »Was war in den Taschen?« fragte der freundliche fremde kleine Herr, als Helwig mit seiner Beschreibung endete, wobei er nach den Worten »auch innere Reißverschlüsse« schlucken mußte. Helwig dachte nach. »Ein Portemonnaie«, sagte er, »mit einer Mark zwanzig, ein Taschentuch, ein Messer –.« Man las ihm alles noch einmal vor und ließ ihn unterschreiben.
    »Wo kann ich mir die Jacke abholen?« – »Das wirst du hier noch erfahren, mein Junge«, sagte der Direktor.
     
    Das war zwar kein Trost für den kleinen Helwig, aber immerhin eine Verklärung des Unglücks,
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