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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz
Autoren: Anna Seghers
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bloße Klang, ein Amulett aus Stimme. Dieser Graben, sagte er sich, läuft unter der Fabrik durch, wird den Abfluß aufnehmen. Er mußte abwarten, bis der Posten gedreht hatte. Jetzt blieb der Posten am Ufer stehn, pfiff. Von der Liebacher Au pfiff es zurück. Georg begriff jetzt den Abstand zwischen den Pfiffen, überhaupt begriff er jetzt viel. Jeder Punkt in seinem Gehirn war besetzt, jeder Muskel war angestrengt, jede Sekunde war ausgefüllt, ungemein dicht war das ganze Leben, atemlos und eng. Wie er dann in dem stinkigen, scharfriechenden Abfluß steckte, wurde ihm plötzlich flau, weil dieser Graben ja gar nicht zum Durchkriechen war, sondern bloß um darin zu ersticken. Und er wurde zugleich ganz rasend, weil er doch keine Ratte war und das kein Ort für ihn zum Abgehn. Da war es aber vor ihm schon nicht mehr pechschwarz, sondern ein Gewitter von Wasserkringelchen. Zum Glück war das Fabrikgelände nicht groß, vielleicht vierzig Meter breit. Wie er herauskam, jenseits der Mauer, stieg das Feld etwas an zur Landstraße, und sein Weg führte schräg hinauf. In dem Winkel zwischen Mauer und Feldweg gab es einen Abfallhaufen. Georg konnte nicht weiter, er mußte sich hinhocken und auskotzen.
     
    Da kam ein alter Mann durch die Äcker, der hatte zwei Eimer an einem Strick über der Schulter, um beim Fabrikwart Hasenfutter zu holen, in Westhofen hieß er das Zimthütchen. Schon sechsmal war dieser alte Mann auf seinem kurzen Weg angehalten worden. Er hatte sich jedesmal ausgewiesen. Gottlieb Heidrich aus Westhofen, genannt das Zimthütchen. Also war wieder mal was passiert im KZ, dachte das Zimthütchen, wie es beim Heulen der Sirenen ganz langsam mit seinen Hasenfuttereimern über den Acker kam: so was wie im vorigen Sommer, als ihnen einer von diesen armen Teufeln ausrücken wollte, und sie haben ihn abgeknallt. Bloß die Sirene hatte noch fertiggeheult, weil er schon abgeknallt gewesen war. Früher war hier solcher Unfug nie gewesen. Daß sie einem grade das KZ vor die Nase pflanzen mußten. Allerdings, jetzt wurde etwas verdient hier in der Gegend, wo sonst ein Herumgekrusche gewesen war. Jedes bißchen erst auf den Markt fahren. Ob es denn wahr war, daß man später das Gelände in Pacht bekam, das all die armen Teufel da hinten ausbuddeln mußten, wo es kein Wunder war, daß sie ausrückten. Und der Pachtpreis sollte niedriger liegen als drüben in Liebach. Das dachte das Zimthütchen, drehte sich aber nochmals um, weil es wissen wollte, aus welchem Grund dieser unglaublich verdreckte Mensch da am Feldweg hockte an einem Abfallhaufen. Wie es sah, daß er bloß kotzte, war es zufrieden, weil das ein Grund war.
     
    Georg aber hatte das Zimthütchen gar nicht gesehen. Er ging weiter. Er hatte zuerst gegen Erlenbach gewollt, weitab vom Rhein. Jetzt wagte er nicht, die Chaussee zu überqueren. Er änderte also seinen Entschluß, wenn man das noch Entschluß nennen konnte, den äußersten unverrückbaren Zwang eines Augenblicks. Er trottete über den Acker mit eingezogenen Schultern, mit gesenktem Kopf, gefaßt auf Anruf, auf Schüsse. Er stieß mit der Fußspitze in die lockere Erde, gleich, gleich, mein Schatz. Sie werden rufen, dachte er, dann knallt es, und ganz gewaltig zog es ihn in den Knien, sich einfach niederzuwerfen. Dann fiel ihm ein: sie werden mir bloß in die Beine knallen, mich lebend abschleppen. Er schloß die Augen. Er spürte, vermischt mit dem kühlen feinen Morgenwind, ein Übermaß an Trauer, dem kein Mensch gewachsen ist. Er stolperte weiter, da stutzte er. Vor seinen Füßen auf dem Feldweg lag ein grünes Bändchen. Er starrte es an, als sei es soeben vom Himmel auf den Acker gefallen. Er hob es auf.
     
    Da stand aus dem Acker gewachsen ein Kind vor ihm in einer Ärmelschürze, mit einem Scheitel. Sie starrten einander an. Das Kind sah weg von seinem Gesicht auf seine Hand. Er zog das Kind an seinem Zopf und gab ihm sein Band.
     
    Da lief das Kind weg zu der alten Frau, seiner Großmutter, die plötzlich auch auf dem Weg stand. »Jetzt bekommst du nur noch Bindfädchen in den Zopf, ätsch«, sagte die alte Frau und lachte. Zu Georg sagte sie: »Der könnt man jeden Tag ein frisches Bändelchen an den Zopf binden.« – »Schneiden Sie ihr doch den Zopf ab«, sagte der. »Nee, nee«, sagte die alte Frau. Sie begann ihn zu mustern. Da rief das Zimthütchen von der Essigfabrik, die noch dicht hinter ihnen war: »Schublädchen!« So hieß nämlich die alte Frau bei allen Leuten in
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