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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz
Autoren: Anna Seghers
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dorthin geraten und ungeheuer rasch, wie mit Engelsflügeln. Hätte er nur jetzt nicht so gefroren.
     
     
     

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    Daß diese unerträgliche Wirklichkeit ein Traum sein müsse, aus dem man alsbald erwache, ja, daß dieser ganze Spuk nicht einmal ein schlechter Traum sei, sondern nur die Erinnerung an einen schlechten Traum, dieses Gefühl beherrschte Fahrenberg, den Lagerkommandanten, lange nachdem ihm die Meldung schon erstattet war. Fahrenberg hatte zwar scheinbar kaltblütig alle Maßnahmen getroffen, die eine solche Meldung erforderte. Aber eigentlich war es nicht Fahrenberg gewesen, denn auch der furchtbarste Traum erfordert keine Maßnahmen, sondern irgendein andrer hatte sie für ihn ausgeknobelt, für einen Fall, der nie eintreten durfte.
     
    Als die Sirene eine Sekunde nach seinem Befehl losheulte, trat er vorsichtig über eine elektrische Verlängerungsschnur – ein Traumhindernis – weg, ans Fenster. Warum heulte die Sirene? Draußen vor dem Fenster war nichts: die rechte Aussicht für eine nicht vorhandene Zeit.
     
    Kein Gedanke daran, daß dieses Nichts immerhin etwas war: dicker Nebel.
     
    Fahrenberg wachte dadurch auf, daß Bunsen an einer der Schnüre hängenblieb, die aus dem Büroraum in den Schlafraum gezogen waren. Er fing plötzlich zu brüllen an, selbstverständlich nicht gegen Bunsen, sondern gegen Zillich, der gerade Meldung erstattet hatte. Aber noch brüllte Fahrenberg nicht, weil er die Meldung verstand, die Flucht von sieben Schutzhäftlingen auf einmal, sondern um einen Alpdruck loszuwerden. Bunsen, ein ein Meter fünfundachtzig hoher, an Gesicht und Wuchs auffällig schöner Mensch, drehte sich nochmals um, sagte: »Entschuldigen«, und bückte sich, um den Stöpsel wieder in die Kontaktbüchse zu stecken. Fahrenberg hatte eine gewisse Vorliebe für elektrische Leitungen und Telefonanlagen. In diesen beiden Räumen gab es eine Menge Drähte und auswechselbare Kontakte und auch häufig Reparaturen und Montagen. Zufällig war die letzte Woche ein Schutzhäftling namens Dietrich aus Fulda entlassen worden, Elektrotechniker von Beruf, gerade nach Fertigstellung der neuen Anlage, die sich nachher als ziemlich vertrackt erwies. Bunsen wartete, nur in den Augen unverkennbare, aber in keinerlei Mienenspiel nachweisbare Belustigung, bis sich Fahrenberg ausgebrüllt hatte. Dann ging er. Fahrenberg und Zillich blieben allein …
     
    Bunsen zündete sich auf der äußeren Schwelle eine Zigarette an, machte aber bloß einen einzigen Zug, dann schmiß er sie weg. Er hatte Nachturlaub gehabt, eigentlich ging sein Urlaub erst in einer halben Stunde zu Ende, sein zukünftiger Schwager hatte ihn mit dem Auto aus Wiesbaden herübergebracht.
     
    Zwischen der Kommandantenbaracke, einem festen Gebäude aus Ziegelsteinen, und der Baracke III, auf deren Längsseite ein paar Platanen gepflanzt waren, lag eine Art Platz, den sie unter sich den Tanzplatz nannten. Hier im Freien bohrte sich einem die Sirene erst richtig ins Hirn. Blöder Nebel, dachte Bunsen.
     
    Seine Leute waren angetreten. »Braunewell! Nageln Sie die Karte an den Baum da. Also: Beitreten! Herhören!« Bunsen schlug die Zirkelspitze in den roten Punkt »Lager Westhofen«. Er beschrieb drei konzentrische Kreise. »Jetzt ist es sechs Uhr fünf. Fünf Uhr fünfundvierzig war der Ausbruch. Bis sechs Uhr zwanzig kann ein Mensch bei äußerster Geschwindigkeit bis zu diesem Punkt kommen. Steckt also jetzt vermutlich zwischen diesem und diesem Kreis. Also – Braunewell! Abriegeln die Straße zwischen den Dörfern Botzenbach und Oberreichenbach. Meiling! Abriegeln zwischen Unterreichenbach und Kaiheim. Nichts durchlassen! Untereinander Verbindung halten und mit mir. Durchkämmen können wir nicht. Verstärkung wird erst in fünfzehn Minuten dasein. – Willich! Unser äußerster Kreis berührt an dieser Stelle das rechte Rheinufer. Also: abriegeln das Stück zwischen Fähre und Liebacher Au. Diesen Schnittpunkt besetzen! Fähre besetzen! Posten auf die Liebacher Au!«
     
    Noch war der Nebel so dick, daß die Ziffern auf seiner Armbanduhr leuchteten. Er hörte schon das Hupen der motorisierten SS, die das Lager verlassen hatte. Jetzt war die Reichenbacher Straße gesperrt. Er trat dicht vor die Karte. Jetzt stand der Posten schon auf der Liebacher Au. Was man tun konnte für die ersten Minuten, war getan. Fahrenberg hatte inzwischen die Meldung an die Zentrale durchgegeben. Unbequem mußte dem Alten jetzt die Haut sitzen, dem Eroberer von
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