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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz
Autoren: Anna Seghers
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den markierten Strich an, drückte den Hebel herunter, noch mal, noch mal und noch mal, endlich, endlich und noch mal endlich. Wenn er nur jetzt einfach weglaufen könnte zu seinem Freund Hermann. Plötzlich setzten seine Gedanken wieder ab. Irgend etwas an dieser Nachricht ging ihn noch ganz besonders an. Irgend etwas, was in der Nachricht enthalten war, wühlte ihn ganz besonders auf, hatte sich in ihm festgehakt und nagte, ohne daß er noch wußte, warum und was. Also ein Lageraufstand, sagte er sich, vielleicht ein ganz großer Ausbruch. Da fiel ihm ein, was ihn daran besonders betraf: Georg … Was für ein Unsinn, dachte er fast sofort, bei einer solchen Nachricht an Georg zu denken. Georg war vielleicht nicht mehr dort. Oder, was ebenso möglich war, er war tot. Aber in seine eigne Stimme mischte sich Georgs Stimme, von fern und spöttisch: Franz, wenn was passiert in Westhofen, dann bin ich nicht tot. Er hatte wirklich die letzten Jahre geglaubt, an Georg zu denken wie an alle übrigen Gefangenen! Wie an irgendeinen von tausend, an die man mit Wut und Trauer denkt. Er hatte wirklich geglaubt, ihn und Georg verknüpfe längst schon nichts anderes mehr als das feste Band einer gemeinsamen Sache, einer unter den Sternen der gleichen Hoffnung verbrachten Jugend. Nicht mehr das andere, schmerzhafte, tief ins Fleisch einschneidende Band, an dem sie beide damals gezerrt hatten. Diese alten Geschichten seien vergessen, hatte er sich fest eingebildet. Georg war doch ein anderer geworden, wie auch er, Franz, ein anderer geworden war … Er erwischte auf eine Sekunde das Gesicht seines Nebenmannes. Hatte das Holzklötzchen dem auch etwas gesagt? War es denn möglich, daß der dann noch weiterstanzte, behutsam Stück für Stück einlegte? Wenn dort wirklich etwas geschehen ist, dachte Franz, dann ist der Georg dabei. Und dann dachte er wieder: wahrscheinlich ist überhaupt nichts geschehen, und auch das Holzklötzchen hat nur gequatscht.
     
    Als er in der Mittagspause in die Kantine kam und sich sein Helles bestellte (denn er aß nur abends mit seinen Verwandten warm, von denen er Brot und Wurst und Schmalz für den Mittag bezog, weil er sich einen Anzug zusammensparen wollte nach der langen Arbeitslosigkeit; aber auf wie lange mochte ihm denn vergönnt sein, diesen Anzug überhaupt zu tragen, und wenn es langte, eine Jacke mit Reißverschluß), da hieß es an der Theke: Das Holzklötzchen ist verhaftet. Einer sagte: »Wegen gestern. Da war es stark besoffen und hat allerhand zum besten gegeben …«
     
    Nein, deshalb nicht, hieß es, es muß etwas andres sein … Was andres? Franz zahlte und lehnte sich gegen die Theke. Weil plötzlich alle ein wenig leiser sprachen, gab es ein sonderbares Gezisch: Holzklötzchen, Holzklötzchen …
     
    »Hat sich die Zunge verbrannt«, sagte jemand zu Franz, sein Nebenmann Felix, ein Freund Messers. Er sah Franz scharf an. Auf seinem regelmäßigen, beinahe schönen Gesicht lag ein Ausdruck von Belustigung. Seine starken blauen Augen waren für ein junges Gesicht zu kalt. »Woran verbrannt?« fragte Franz. Felix zuckte mit Schultern und Brauen, er sah aus, als unterdrückte er ein Lachen. Wenn ich nur jetzt sofort zu Hermann könnte, dachte Franz wieder. Aber es gab keine Möglichkeit, Hermann vor Abend zu sprechen. Plötzlich entdeckte er Anton Greiner, der sich zur Theke durchzwängte. Anton mußte sich unter irgendeinem Vorwand eine Passagiergenehmigung verschafft haben, weil er sonst gar nicht in diesen Bau, nicht einmal in die Kantine hereinkam. Warum sucht er immer gerade mich, dachte Franz, warum will er immer gerade bei mir erzählen?
     
    Anton faßte ihn an den Arm, ließ aber sofort wieder los, als ob in dieser Bewegung etwas Auffälliges liege, stellte sich wieder zu Felix und goß sein Helles herunter. Dann kam er zu Franz zurück. Er hat doch brave Augen, dachte Franz. Vielleicht ist er ein bißchen beschränkt, aber doch aufrichtig. Und zu mir zieht es ihn, wie es mich zum Hermann zieht… Anton faßte Franz unter den Arm und erzählte, wobei ihm der Schluß der Mittagspause, der allgemeine Aufbruch zustatten kam: »Drüben am Rhein in Westhofen sind welche durchgegangen, eine Art Strafkolonne. Mein Vetter erfährt das doch. Und sie sollen die meisten schon wieder geschnappt haben. Das ist alles.«
     
     
     

3
     
    Wie lange er auch über die Flucht gegrübelt hatte, allein und mit Wallau, wie viele winzige Einzelheiten er auch erwogen hatte und auch den gewaltigen
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