Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
Vom Netzwerk:
Verdrängt aber habe ich, dass du mich manchmal, nach dem Aufwachen, verstört über die Abwesenheit deiner Mutter, angesehen hast, als sei ich dir unbekannt, dich aus meinem Arm gewunden und über die Bettkante fallen gelassen hast. Weißhäutig ranntest du durch das Zimmer, mich fliehend, von einer Wand zur anderen, mit halboffenem Mund, wie Stumme, die ihren Schmerz nicht mehr zurückhalten können.

EINUNDDREISSIG
    Ein Bekenntnis, ja, das möchte ich dir gerne ablegen; aber du hast es mir schon damals von den Lippen gelesen.
    Ich wurde immer wieder zu neuen ›Auskünften‹ zitiert, wie man diese Verhöre nannte, du derweil in der Polizeistation bespielt von der Sozialarbeiterin. Dass ich keinen Zugang zur Wohnung deiner Mutter hatte, das Schloss längst ausgetauscht worden war, genügte nicht, um die Verdachtsmomente gegen mich auszuräumen: deine Mutter war durch jemanden zu Tode gekommen, den sie gut gekannt haben musste. Sie schien mit einem neben ihr gefundenen blauen Samtband erwürgt worden zu sein, doch offensichtlich ohne sich gewehrt zu haben oder sich wehren zu können. Ich schilderte ihre Sexualpraktiken, ihre Erstickungsgefühle verursachenden Erregungen, bemühte mich, ihre Beziehung zu Louis nur am Rande zu erwähnen, um ihn nicht unnötig in diese Geschichte zu ziehen, und war zugleich gierig auf jedes Detail: Wie hatte sie gelegen? War sie unbekleidet gewesen? Ihr Tod war um elf Uhr abends eingetreten, als ich an einem Bild von dir arbeitete, dein Torso in dickem gelbem Acryl, ohne auch nur mehr eine Ähnlichkeit mit dir zu erzielen.
    Ich fragte in dem Maße nach, in dem ich befragt wurde, um mir ihren Tod bis ins Kleinste auszumalen. Ich sah das Zimmer vor mir, in dem wir lange zusammen geschlafen hatten, den roten langen Vorhang, die Brüstung zur Straße hin, den Gitterpfosten des Bettes, ich wollte es nachvollziehen können, mich einleben, als wäre ich selbst dabeigewesen, es befriedigte mich unsäglich, ich weidete mich in dieser Genugtuung. Ich hatte keinen Zweifel, wer sie umgebracht hatte, fühlte mich ein in ihn, fragte mich, wie er es angebahnt hatte, unter welchem Vorwand: wie lange hatte er gebraucht, um ihr näherzukommen? Seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit hatte wohl genügt…
    Und so hörte ich ihn läuten, sah ihn eintreten, es bedurfte kaum des Geplänkels und der Konversation, leise, leise des Kindes wegen. Sie wollte seine Lippen auf die ihren gepresst haben, langsam entkleidet werden, das war wichtig, Zoll um Zoll, erst einen Finger, dann den zweiten Finger unter ihrer Jacke, ohne dass er sich aber ausziehen durfte. Es war ohnehin nur das Vorspiel, mit dem sie ihn so weit brachte, sich ihrer Choreographie zu überlassen, eine berechnende Geste um die andere, all die formalisierten Bewegungen und Posen, die ich allzu gut kannte, ein weißes Ballett von Fußwechseln, gesprungenem, gestrecktem und geworfenem Schlagen, um im Katzenschritt wieder Fußposition einzunehmen, beide Hände auf der Barre.
    Ließ sie sich festbinden? Oder genügte es ihr, sich selbst daran klammern zu können? Schritt für Schritt sah ich alles vor mir, die gesamte Schlagfolge, Fouetté, dann Effacé nach hinten und vorn, die weiße Hand mit den roten Fingernägeln gespreizt, Battement tendu bis zum Grand jeté, in dem erst sie sich verlieren konnte, den Hals lang gereckt, er auf ihr kniend, die Hände um ihren Hals, während sie völlig reglos lag: die Schlagader nur leicht vom Daumen abgedrückt, das blaue Band darunter, der Rausch ihr in den Kopf steigend wie ein schwarzer, summender, alles übertönender Bienenschwarm, gelbfleckig vor den Augen: Brisé. Worauf er sich wieder anzog, sie vielleicht noch leicht drapierte, die Stellungen verwischend und verändernd, ein Verbindungsschritt und dann hinaus, Richtungswechsel.
    Mit jedem Mal, dass ich es mir vorstellte, wurde es gegenwärtiger; ich war nicht mehr bloß Zuschauer dieses Schwanensees, ich steigerte mich in eine atemlose Hysterie, als könnte ich mich mit diesem Hoch über das aufsteigende Schuldgefühl erheben, das mich schier erstickte, bis ich schließlich vor dem verchromten Tisch zusammenbrach und alles schilderte, jede einzelne Position bis zum Retiré, in einem umfassenden Geständnis. Ich widerrief es erst, als man mir die Abschrift zur Unterzeichnung vorlegte.
    Wozu den monatelang sich hinziehenden Prozess schildern? Er bestand letztlich aus weiteren Stellungswechseln, ohne dass das eröffnende Gambit eine schnelle Entscheidung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher