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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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mechanischen Bewegung jedoch, mit der die Platte des Fachs herausgerollt wurde, erhielt es seine unabänderliche Wirklichkeit. Sie war so endgültig wie übergangslos, dem Augenblick nach einer langen Trennung vergleichbar, während der man sich die Geliebte immer wieder aufs neue ausgemalt hat, alles an ihr, ihre Abwesenheit einen mit körperlichem Schmerz erfüllend, bis man endlich aus dem Zug steigt und sie am Perron steht, so bestürzend selbstverständlich, dass das Nachbild der Ferne bloße Einbildung gewesen zu sein scheint. Ich war dann stets maßlos enttäuscht, enttäuscht über mich, weil ich es nicht zu bewahren verstand, es mit jedem Schritt über den Bahnsteig, unter den auf uns fallenden Blicken, seine Wirkungsmacht einbüßte und so eindeutig wurde, so eindimensional wie real.
    Die Plane wurde zurückgeschlagen, und ich öffnete den Mund: als steckte mir ein Vogel in der Kehle, der sich aus der Luftröhre herauspresste, seine nassen Federn stickend an Zunge und Zähnen, sich herauswindend und schüttelnd vor dem ersten Flügelschlag, würgte ich trocken, vornübergebeugt, die Bauchmuskeln verkrampft. Der Kopf deiner Mutter war leicht zur Seite geneigt, ihr Haar hochgesteckt; die Mundwinkel ein wenig verschoben, die Brauen leicht hochgezogen, ein Schatten über ihrer Wange, als sähe sie in der Ferne etwas, das sie irritieren könnte, dessen Name ihr auf der Zunge lag, ihr aber noch nicht über die Lippen kommen wollte. Ihr Schlüsselbein zeichnete sich streng unter der wächsernen Haut ab, die Halsgrube vertieft; das war das letzte, was sich mir einprägte, bevor ich mich abwandte.
    Ich nickte, identifizierte auf die Nachfrage dann deine Mutter auch formell, und man brachte mich auf die Polizeistation, wo ich stundenlang allein am schmierigen Chrom eines Tisches saß, einem Spiegel gegenüber, der an der Rückseite durchlässig war.
    Es steht mir vor Augen, jetzt wie damals, und ohne dass daran etwas zu deuten wäre. Ich stehe auf und setze mich wieder an den Tisch, ohne dem etwas hinzuzufügen, blättere in meinen Kunstbüchern, als fände ich den Gesichtsausdruck deiner Mutter dort dargestellt. Doch stattdessen ist da jetzt dieses bleifarbene Flattern einer Taube am Fensterbrett, das aufgebrachte Gurren, weil sie sich halb gefangen sieht, das Glas für Luft haltend, von diesem Trugbild des Lichtes ebenso verstört wie von sich selbst, das Gefieder gegen das Scheibenkreuz schlagend.
    Deine Mutter war erstickt. Ob sie erwürgt worden war, ließ sich nicht feststellen; an ihrem Hals fanden sich keine Blutergüsse, die Augen wiesen jedoch geplatzte Äderchen auf. In ihrer Wohnung war nichts in Unordnung gebracht worden, das Schloss der Tür intakt. Ein Nachbar hatte dich schreien gehört, die Leiche entdeckt und schließlich die Polizei verständigt.
    Wirst du dich noch an dieses Schrecknis erinnern? Wie du schließlich aufgestanden bist, um nach deiner Mutter zu suchen, sie auf ihrem Bett gefunden und nach ihrem Arm gegriffen hast, der dir zu schwer war, um ihn hochzuheben, dich an ihre kalte Brust geschmiegt hast, ihre Starre bestürzender als Hunger und Durst. Es nahm sich schließlich eine Sozialarbeiterin deiner an, all das Fremde dich völlig verstörend: als man mich endlich zu dir ließ, fiel es mir schwer, dich zu beruhigen.
    Es war das letzte Mal, dass wir zusammen waren: uns blieben nur mehr die Wochen bis zum Ende der Ermittlungen. Ich kochte für dich, wir gingen ins Freie, waren den ganzen Tag zusammen, badeten lange und schliefen eng umschlungen: ich war glücklich. Und auch du schienst es wieder zu werden, trotz allem; ich hörte es an deinem Summen, und wie du versucht hast, mir Worte nachzusprechen, Zunge und Lippen, als würdest du trinken. Ich kannte mich kaum noch, so ausgelassen war ich, in kindischem Spiel mit dir befangen, dass ich mich mit dir gar um Bauklötzchen raufte. Du warst in dem Monat, in dem ich dich nicht gesehen hatte, gewachsen, dein Gesicht schmaler und irgendwie listiger geworden: das merkte ich daran, dass du heimlich hinter der Schokolade her warst und, als ich dich erwischte, nur breit über dein verschmiertes Gesicht gegrinst hast, fast schon verschlagen, ein Stück noch in der Hand hinter deinem Rücken verborgen, sodass ich unwirsch aufbrauste.
    Alles, was wir an diesen Tagen unternahmen, ist mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben, es ist das einzige, was ich in die andere Schale der Waage legen kann, die sich längst zur Erde geneigt hatte.
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