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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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Ausschreibung ihr Büro eingeladen worden war. Ich konnte dazu kaum beitragen, aber hörte ihr gerne zu, froh um jede Ablenkung.
    Der Abstand zwischen uns hatte den Druck aus unserer Beziehung genommen; sie verlangte mir nicht mehr Hingabe ab, als ich aufzubringen vermochte, und begnügte sich mit dem wenigen Vertrauten. Ich bildete mir ein, dass Kim es für eine Auszeit hielt und auf mich wartete, in der Hoffnung, es würde sich alles in mir setzen, meine Depressionen nur Anzeichen eines seelischen Sedimentationsprozesses sein, mit dem ich irgendwann wieder Boden unter den Füßen gewänne.
    Wir unternahmen lange Gänge durch Paris, Kim auf der Suche nach Inspiration, ich ihren Worten folgend, irgendeine Anspielung aufgreifend, als wolle sie mir eine Allegorie schildern, deren Figuren für die Architektur des Lebens standen. Sie erzählte von Straßen und Plätzen, die lange jedes Siedlungsmuster bestimmt und die Häuser um diesen öffentlichen Raum angeordnet hatten, Feilspänen gleich um eine magnetische Leere. Dann entstanden Städte, die sich davon isolierten, deren Wohn- und Arbeitsmaschinen das Modell eines idealen, in sich geschlossenen Universums darstellten, der Christianopolis gleich, die mein Vater in der Branau fortzuführen versucht hatte, bis diese Utopie von innen und außen zerschlagen wurde, das Terrain zur Kloake verkommen, von Pest und Cholera verseucht, die Häuser zerfallen. Kim zeigte mir auch, wo Napoleon III. diesen Sumpf trockenlegen und die Île de la Cité aufmauern ließ, um die Stadt in Asterismen anzulegen: Kais und Boulevards als Verbindungslinien zwischen den Konstellationen um die Place de l’Étoile und die Place de la République.
    Spazierten wir vom Arc de Triomphe zu den Tuilerien, kreuzten wir die Achsen der Rue de Rivoli und des Boulevards de Saint-Germain und gelangten zu den ›Schlachthallen‹. Ging ich mit dir im Arm über den Pont des Invalides hinunter zum Hôpital Necker, kamen wir zu ›Enfants Malades‹ und zum ›Marsfeld‹. Der Plan der Stadt war einer Sternkarte ähnlich, die sich zwischen zwei neu angelegten Projektionspunkten aufspannte, dem Sakralbau von Sacré-Cœur und dem profanen Monument des Eiffelturms: der Kilometer Null das Zentrum.
    Aber auch diese Ordnung ging wieder verloren. Im Osten lagen nun vertikale Plattenbauten, die sich bis nach China erstreckten, im Westen eine bis nach Kalifornien reichende Suburbia von Reihenhäusern, die Stadt sich von jedem Azimut aus erneut auflösend. Sie breitete sich von ihren Haftpunkten amöbenartig aus, ihre Scheinfortsätze alles umfließend, um es in Zysten einzuschließen, ohne irgendeine Art von Zellkern, in dem sich das Wesen der Stadt wiederbeleben ließe. Egal, welche Vergleiche Kim bemühte, ob ein Perpetuum mobile, das Primum movens von Sphären oder das Ektoplasma des Urbanen: alles regredierte und verfiel wieder in einen atavistischen Urzustand. Es gab kein Kontinuum, keine wiedergewonnene primordiale Unschuld, keine neue Vision.
    Kim verlegte sich deshalb bei ihrem Projekt darauf, das ›Maskuline‹ – wie sie es nannte – und ›Totalitäre‹ von rechten Winkeln zu umgehen und sozusagen eine weibliche Seite von geschwungenen Linien herauszuarbeiten. Ihre Bauten sollten Puzzleteile sein, die sich nicht ineinander verschränkten, sondern sich verschiedenfarbig zu einer Abfolge von ›Emotionen‹ fragmentierten, um halbkreisförmige Plätze, Parks und Straßenbögen zu ermöglichen, die Fassaden sich um Buchten und Kehren reihend, Inseln gleich im Strom.
    Dennoch kam in dieser Topographie aus Beton nur desto deutlicher das Vakuum zum Vorschein, um das sich die Räume unseres Lebens gruppieren. An dieser Leere ausgerichtet, einem zur bloßen Idee geratenen Fluss, werden irgendwelche Planmuster kaum noch erkennbar: dem Babel meiner täglich niedergeschriebenen Seiten gleich, auf denen sich ebenfalls nichts zu einer Einheit von Ort, Zeit und Handlung, einer Fabel fügt. Das Blaupapier des Himmels und der Grundriss der Erde decken sich nicht mehr, ihre Orthographie verzerrt, gegeneinander verschoben, aufklaffend. Dazwischen unsere Existenz: unsicher und vorläufig, im Irrlauf begriffen, jede Tat zum Scheitern verdammt. Zerbrochen all die Entsprechungen und Symmetrien, verloren die Parallelen, die sich zumindest im Imaginären schnitten, abgekappt jede Entwicklungslinie. In der Evolution der Städte lässt sich ebenso wenig ein Gesetz erkennen wie in der Geschichte meiner Familie: was meine Eltern
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