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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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Individuum das Prinzip der Absonderung, der Lostrennung vom Ganzen, der absoluten Unbeschränktheit; das Fatum hingegen setzt den Menschen wieder in Bezug zum Ganzen und nötigt ihn, indem es ihn zu beherrschen sucht, zur Gegenwehr. Eine absolute Willensfreiheit ohne Fatum würde den Menschen zu Gott, das fatalistische Prinzip allein ihn zum Automaten machen.

ACHTUNDZWANZIG
    Ist es eine Beichte, die ich hier ablege? Dann jedoch nicht vor Gott, und auch nicht, um Vergebung zu erbitten, sondern um dich loszusprechen.
    Ich habe nie mehr dieses Gefühl inneren Friedens erreicht wie in dieser einen Stunde, in der ich endlich den Mut aufbrachte, zu handeln. In dem Augenblick, wo ich das Kerbmesser nahm, zog sich alles, was mich von außen bedrängte, auf der Fläche meines Körpers zusammen: als wäre er eine Kupferplatte und dies die Gravur eines Stichels, winzig rote Späne sich aufringelnd. Es war ein Blutfluss, der allein durch die Nähe des Todes möglich wurde.
    Ich radierte all die falschen Anschuldigungen deiner Mutter aus, mit denen sie mich in unserem Sorgerechtsstreit überhäuft hatte, um dich mir wegzunehmen, das mir angetane Unrecht, meine die Seele verätzende Ohnmacht, und bekräftigte diese Phantomhandlung, mit der ich Milan tags zuvor gedungen hatte, durch etwas Reales: indem ich meinen Körper markierte. Mit jedem Schnitt bestrafte ich mich selbst; zugleich aber war es ein Versuch der Heilung, das Aderwerk von innen nach außen gekehrt.
    Geblieben sind mir die Narben auf den Schenkeln, auf Bauch, Hals und Handgelenk als fühlbare Zeichen der Trauer. Als Trophäe, Talisman, beständige Erinnerung. Ich betaste manchmal den fleischigen Grat am Innenarm, um zu spüren, dass ich einen Strich unter alles gezogen habe. Dennoch entgeht mir die Ironie nicht, dass ich mich dadurch auf jene Art verletzte, die deiner Mutter Lust bereitete, dass ich mir selber zufügte, was zu tun ich stets verabscheut habe, ohne in diesem Zerrspiegel einen höheren Sinn zu erkennen. Außer dass ich so erstmals deine Mutter verstand und mich ihr nahe fühlte: doch etwas nachvollziehen zu können, heißt nicht, es zu entschuldigen.
    Obwohl Kim es nicht offen sagte, war diese Tat für sie ein Zeichen von Schwäche, schlimmer noch, ein Tabubruch. Sie war mit einem Ethos groß geworden, der einem Gleichmut auferlegte, ohne an eine übergeordnete Instanz zu appellieren oder darin jene Verwandlung zu sehen, wie sie das Kruzifix darstellt. Ich habe ihr Land, ihre Eltern, ihr altes Leben nie kennengelernt, sie schob einen Besuch immer wieder hinaus; trotzdem hatte ich den Eindruck, dass in diesem Kreis nur derjenige Anspruch auf Respekt hatte, der äußerlich stoisch blieb. Das Zurschaustellen von Schmerz verriet einen Mangel an sittlicher Anstrengung – Mitleid war reserviert für jene, die sich nicht selbst helfen konnten, Kranke und Kinder. Kims sanfte Gesten unmittelbar nach der Tat waren Ausdruck davon; als Mann aber ging ich ihr dabei verloren.
    Zurück in Paris, die Arme steif, die zugeknöpften Hemdsärmel unwillkürlich mit Fingerkuppen ans Handgelenk pressend, stand ich an der Schwelle zu unserer alten Wohnung, um dich zu sehen. Ich wusste, dass es nicht mein Tag im Monat war, aber ich versuchte es trotzdem, weil ich erleben wollte, wie deine Mutter die Tür vor mir zuschlug. Gewissensbisse hatte ich keine, ich brauchte diese Bestätigung, um auch den allerletzten Zweifel auszuräumen, mehr noch, um Befriedigung zu empfinden, eine imaginäre Genugtuung; in mir rollte eine Vorstellung ab, die ich mir in immer wieder neuen Szenen ausmalte: Milan, Milan, Milan.
    Als deine Mutter öffnete, waren wir beide von meiner Freundlichkeit überrascht; sie kam mir über die Lippen, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen, die Begrüßung, die Frage, wie es ihr gehe, was ihr die letzten Tage unternommen hättet, sogar ein Scherz rutschte mir heraus, ohne dass eine Silbe falsch geklungen hätte. Verdutzt stammelte deine Mutter ein paar Worte und sah zu Boden. Und da wusste ich, dass es nun ausgestanden war, mehr noch: dass ich jetzt Macht über sie hatte, und es überkam mich ein Gefühl von Glück, obwohl ich wieder umdrehen musste, ohne dich gesehen zu haben.
    Tags darauf zog Kim aus; ich aber lebte die nächsten Wochen in einer Vorzukunft, in der mir nichts mehr etwas anhaben konnte. Ich malte, wieder und zum letzten Mal, mit ungeahntem Furor. Louis war mein allabendlicher Saufkumpan; wir saßen in der Küche, die nach Kims Auszug kahl war;
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