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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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seine Gegenwart war mir eigenartigerweise angenehm, obwohl ich wusste, dass er nun mit deiner Mutter zusammen war, ab und an. Dennoch horchte ich ihn nicht aus; ich fragte nur nach dir. Was zwischen ihm und deiner Mutter war, brauchte ich gar nicht zu hören; ich hatte nun überall meine Strohmänner – und da Louis bei deiner Mutter inzwischen zu meinem Stellvertreter geworden war, konnte ich endlich Ich sein.
    Die meiste Zeit betrunken, hatte ich mich aber noch hinreichend im Griff, um ihm nicht die Übereinkunft mit Milan zu gestehen; dagegen erwähnte ich das Debakel mit meinem Verleger und erzählte schließlich von meinen Ritzungen, in einem unbeteiligten Tonfall, als berichtete ich von einem Fremden. Erst wenn uns nichts und niemand mehr zu beschuldigen bleibt, bezichtigen wir uns selbst; hilflos versucht man dann, über das einzige zu bestimmen, über das man noch bestimmen kann: über sich selbst.
    Vielleicht erschreckte mich die Milan überlassene Tat auch deshalb so viel weniger als irgendeine vorsätzliche Handlung: denn so würde es stets nur ein Todesfall bleiben. Ohne nachweisliches Motiv. Ein Ergebnis des Zufalls, etwas Fremdbestimmtes. Indem eine Verkettung von Umständen für den Tod deiner Mutter verantwortlich war, betraf er mich nicht mehr. Ich hatte ihn gewissermaßen einer eigenmächtigen Aleatorik übertragen: dem Schicksal anheim und vor die Tür gestellt. Wie mich diese Vorstellung befriedigte, ja befriedete. So süß. Jedesmal die Erinnerung daran, wie ich Milan gegenüberstand, wir uns ansahen; der Tod in den Augen des anderen. Und dass ich ihn bezahlt, ihn mir gekauft hatte, Kontrolle erlangt und ihn nunmehr zu meinem Handlanger gemacht hatte. Angespannt wartend, ohne zu wissen, wie und wann mich die Nachricht erreichen würde.
    Ich weiß, wie aberwitzig dies klingt. Doch von rationalen Überlegungen war ich damals weit entfernt. Kein Gang von Vergebung gekrönt, alle Rechtswege ausgeschöpft, jeder weitere Schritt verwehrt, wurde ich mit dem Verlust deiner nicht fertig. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn du hättest sprechen können, deine Bedürfnisse artikulieren, deinen Widerstand, auch den gegen mich. Durch deine Stummheit jedoch warst du wie eingewachsen in mir, ging ich gleichsam schwanger mit dir. Ich hatte eine Couvade mit all ihren Sympathieschmerzen, Stimmungsschwankungen, Übelkeit durchlaufen, ja, war sogar dicker geworden – nun aber war ich von diesem Männerkindbett aufgestanden, hatte man dich aus meinem Leib geschnitten. Doch gleich, wo man bei der Eingeweideschau einmal den Sitz der Seele bestimmt, das Übel hatte inzwischen alles zerfressen wie ein Krebsgeschwür, sodass selbst ein Aderlass nichts mehr nützte.
    Aber ich konnte noch malen, griff mit den Händen in die Töpfe, zog die Farben auf die Leinwand, bis mir die Fingernägel einrissen, malte dich, zuerst aus dem Gedächtnis, malte dich, wie du älter wurdest, als Mädchen, Frau, Mutter, malte dich liebend und hassend, trauernd und froh, mit den langen Locken, die du bekommen würdest, dem Ansatz von Brüsten, den ersten Falten um die Augen, nackt und in Kleidern, beschmierte meinen Bauch mit Farbe und drückte ihn auf das Weiß, meine Arme und Beine, den Kopf, malte dich mit mir, in mir, aus mir heraus, verlor jeden Abstand.
    Ob die Bilder gut oder schlecht waren, kann ich nicht sagen: Auf Louis’ Urteil gab ich wenig, und außer ihm zeigte ich sie nicht einmal meinem Galeristen, von dem ich mir ohnehin kein Echo mehr erwartete. Er hatte sich zu oft am Telefon verleugnen lassen; und ihn zu stellen hätte nichts gebracht: ich war unverkäuflich geworden, der Zeitgeschmack verlangte nicht nach Figurativem. Um die Miete zu bezahlen, übernahm ich deshalb gewöhnliche Malerarbeiten und fühlte mich wohl in den Häusern anderer, Möbel und Familienfotos zugedeckt von Plastikplanen, die unvergilbten Flächen der abgehängten Ölschinken mit der Rolle übermalend, eine Schicht von opakem Weiß, der ätzende Geruch des Kunstharzes alles erstickend.

NEUNUNDZWANZIG
    Wie sich die Worte drehen und wenden lassen, um in einem Satz dennoch eine Linie, eine Figur zu erhalten. Wie aber schreiben, was zwischen den Zeilen liegt?
    Der einzige Mensch, mit dem ich noch ernsthaft reden konnte, war Kim. Die Bedingung, die sie für unsere Treffen stellte, war jedoch, nichts mehr über dich und deine Mutter hören zu müssen. Also sprachen wir über ihre Arbeit, den Entwurf eines neuen Stadtquadrats für Tokyo, zu dessen
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