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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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miteinander, was mich mit ihnen und mich mit dir verbindet, ist bloß die Aleatorik von Chromosomen.
    Auch du wirst dich nicht in den zwei Fremden wiederfinden, deren Gene du teilst, die sich in dir rekombiniert und mutiert haben. Wann hat deine Sprachverweigerung wohl aufgehört? Was deinen Mutismus schließlich überwunden? Ein Therapeut wie meiner? Der mich dazu zwingt, im Nachhinein etwas festzuschreiben, was allenfalls eine Ahnung dessen gibt, was mich dazumal umtrieb… Denn das einzige, woran ich damals dachte, war der Tag jenseits der Grenze.

DREISSIG
    Woher dieser Drang nach einem Geständnis? Beschränken Sie sich doch, so mein Arzt, auf eine Szene, einen Schnappschuss, um die Unschärfen besser umgrenzen zu können.
    Deine Mutter hasste es, fotografiert zu werden, mehr noch, für eine Kamera Modell zu stehen. Gesichtslose Großaufnahmen von Gliedern und Haut: das Ohr, ihre Haare dahintergestrichen – klick; der rauhe Vorhof der Brustwarzen – klick; die Gänsehaut an ihrem Po – klick, der Körpergeruch des Fotografen, der ihr den Lichtmesser an den Bauch hält, jeder Schuss, als würde sie verfolgt. Obwohl sie sich ungleich mehr dabei bewegen konnte und musste, fühlte sie sich toter; erst die statischen Posen für ein Bild oder eine Skulptur ließen sie aufleben, weil sie dabei den Künstler für sich gewinnen und vereinnahmen konnte, damit er sie wiedergab, nicht wie sie war, sondern wie sie sich wollte.
    In der Pause ging sie zwischen ihren Doubles umher, berührte die schwierigeren Details mit Fingerspitzen, eine Hüfte, das Rückgrat, die Nasenflügel, ein Ensemble noch unfertiger Figuren, die ihr vorausgingen in die Welt. Ich weiß noch, wie einer von uns, unzufrieden mit der Ähnlichkeit, noch während der Sitzung den Gipfskopf, an dem er arbeitete, in beide Hände nahm und mit einem harten Ruck abtrennte, sodass deine Mutter auf dem Podium zusammenzuckte und nach Luft schnappte.
    Ihr Gesicht verfolgt mich noch immer. Es war nicht schön im klassischen Sinne; vielmehr beeindruckten ihre klar geschnittenen Züge, in denen sich die Abgründigkeit des Lebens zu manifestieren schien. Ihre Mimik jedoch konnte binnen eines Augenblickes zwischen sprühender Offenheit und völliger Verschlossenheit wechseln: als zucke ein Schmerz in ihr auf, der sich in beinah kindliche Hingabe verwandelte. In diesem Punkt logen die Fotografien nicht; sie arbeiteten das Megärenhafte und Missgünstige an ihr ebenso heraus wie ihr vergebliches Aufbegehren dagegen: mit ihr zu sein hieß, in dem schmalen Raum dazwischen zu leben. Niemand konnte besser Begeisterung vortäuschen, Lebensfreude und menschliche Nähe verkörpern, um im nächsten Moment ein steinern weißes Antlitz zu zeigen, das unter seiner anmaßenden Glätte jeden Ausdruck wieder verbarg, als vermöchte sie ihr eigentliches Ich nicht mehr zu überspielen.
    Stattdessen schien sie einem an den Lippen zu hängen, als hätte sie nur auf diese Worte, diese Sätze gewartet, die ihr alles erschlossen. Ihre Stimme war ungewohnt tief, selbstsicher, ein Register, das alles umfasste, bis sie heiser wurde und verstummte, in diesem dramatischen Wechsel, bei dem ihre Angst zum Vorschein kam: die durch nichts zu vertreibende Angst, dass sie im Grund gar nicht existierte, bereits gestorben war, lebendig begraben unter all dem Unverständnis für ihr Wesen.
    Doch das Bild, das du von deiner Mutter in Erinnerung behalten sollst, ist anders als die Fotografien, die etwas von ihr der Vergänglichkeit entrissen haben, ohne das Lebendige wiedergeben zu können. Dabei suchte sie nur Schutz – obwohl sie einen wieder zurückstieß, sobald man sie in den Arm nahm. Sie wusste um das Pathos ihrer Gefühlsausbrüche, schrieb ihre Hysterie ihrem Körper zu, ihren Hormonen oder machte ihren Vater dafür verantwortlich, seine Cholerik, mit der sie aufgewachsen war, die ewig geduckte Frau an seiner Seite, beide sich stets irgendwie betrogen fühlend: sie wusste um all dies und konnte ihm doch nicht entrinnen.
    Und dann war da wieder ein weiß ausgefliester Raum, ein Boden aus blauem Linoleum, die Luft kalt und abgestanden. Man zog eines der Schubfächer des Metallschrankes heraus, die Rollen in der Leiste quietschend, eine grüne Plastikfolie glatt über den gestreckten Körper gelegt, von den Fußspitzen leicht zu einem Bogen gespannt.
    Bis zu diesem Moment war es noch möglich gewesen, das Unabwendbare zu verdrängen, die Illusion meines bisherigen Lebens aufrechtzuerhalten. Mit der
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