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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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Können abgefordert, um darüber zu meinem zu werden. Bei Gouachen lassen sich die Farben nicht mehr verreiben, die Schichtungen von Dunkel zu Hell, von Blau zu Gelb müssen mit Bedacht gelegt werden – so sorgfältig, wie ich auch vorgehabt hatte, den Grundriss eines Hauses zu entwerfen, den Schattenriss einer Familie.
    Der Verleger wird nun Kim und mich wie vereinbart abholen, um die Aufmachung der Publikation zu besprechen; wir werden den Wein trinken und die Haselnüsse knacken, für die diese Gegend bekannt ist. Ich versuche, das rechte Gesicht dafür aufzusetzen, weiß, dass es mir schon bald nicht mehr passen wird, jedes Lachen schmal herausgepresst.
    Dann steht Kim vor mir, fährt mir durchs Haar und ich drücke meinen Mund an ihren Bauch, verloren an sie und mich. Ich bin immer noch erstaunt, dass sie mich liebt, ohne etwas zu fordern, und umso linkischer, da ich nicht weiß, wie sie umfangen. Bislang hatte ich bloß kopiert, was deine Mutter für Liebe hielt, gewohnt, sie als Vorwurf aufzufassen, mich dabei jedoch als weiße Fläche auszusparen, bis das Leuchten der Farben darauf kreidig wurde und riss.

ZWEI
    Der Wahrheit willen zeichne ich für dich noch einmal all die Um- und Abwege nach: das wird das Geradlinigste sein.
    Wenn du diese Zeilen liest, wirst du alt genug sein, um längst auch in dir Gewalt entdeckt zu haben, dieses an Zähnen und Klauen rote Biest. Deine Mutter wollte dich vor diesem Tier bewahren, das in mir wie in dir steckt. Wenn es nach ihr ging, hättest du nicht einmal im Sandkasten krabbeln dürfen, weil du alles sofort in den Mund nahmst, dein Schlund grau von Grit; dir aber machte es nichts aus, du lachtest – so schmeckte die Erde eben, wenn man sich in ihr festbeißt.
    Ich dagegen wusste, bis ich dreißig wurde, kaum etwas von dem, was blind im Menschen steckt. Das änderte sich, als ich deine Mutter kennenlernte, wie sie in der Säulenhalle der Akademie wartete, der Steg über die Seine ein Stahlbogen über das Wasser, an dem die Liebenden saßen in ihrer für sie noch unbegreiflichen Nähe. Um deine Mutter zu sehen, musste ich mir das Geld dafür von meinem Stipendium absparen; dazwischen ging ich in die Sorbonne, um Vorlesungen über ›aleatorischen Materialismus‹ zu besuchen. »Die Logik des Würfelwurfs auf den Kampfplätzen der Philosophie«; »Die Staatsmaschine und die Mechanik des Zufalls« – gehalten wurden diese mehr oder minder extemporierten Reden von einem Schweizer, der stets im selben perlgrauen Anzug ans Pult kam, dicke lange Locken im Pferdeschwanz; wie ich hörte, wechselte er bald danach vom philosophischen Institut ins Verlagswesen, um seine ›permanente Revolution‹ im handlicheren Format von Büchern unter die Leute zu bringen.
    An den anderen Tagen zog es mich in die Straßen; ich entdeckte die Stadt und begann sie während der Studentenunruhen zu fotografieren, die zufälligen Zeichen der Gewalt: ausgebrannte Autos, Parolen an den Wänden, ein blutiges Taschentuch, aufgebrochenes Pflaster, aus dem die Steine gerissen worden waren, das zerschmetterte Glas über einem mit Marilyn Monroe werbenden Plakat an einer Bushaltestelle. Sie erschienen mir als poetische Sujets, bis ich einsehen musste, dass meine Stärke nicht im Blick durch einen Sucher lag, in unbeteiligtem Sezieren und Sichdistanzieren, sondern vielmehr im Ausgriff der Hand und wie sie etwas bloßlegt an den Dingen, unserer Natur. Ihr Gestalt zu verleihen, begann ich die klassische Ausbildung an der Akademie und war mir bewusst, dass ich damit aus der Zeit fiel.
    Mir haben meine Eltern stets vorgehalten, ein zorniges Kind gewesen zu sein, beständig um Anerkennung raufend – ich selbst kann mich dessen nicht mehr entsinnen.
    Meine Erziehung beruhte auf den Vorstellungen meines Vaters, die er als Aussiedler aus einer anderen Zeit mitgebracht hatte, auf dem Fundament eines Glaubens, in dem Gott aus der Welt getreten war, nachdem Er alles beseelt hatte. Da aller Anfang in Ihm war, zog Er sich daraus zurück, um Seiner Schöpfung Platz zu machen: so entstand die Welt samt ihrem Makel. Nur Sein Licht breitete sich in ihr noch aus; doch es gleißte derart, dass die Sphären davon brüchig wurden und sich mit Rissen überzogen. Siehst du den Himmel?, fragte mein Vater. Die Sternbilder zeigen uns nachts die abertausend Stücke, in die das Firmament seit dem Sündenfall zersprungen ist.
    Meine Mutter hingegen, um viele Jahre jünger, sah in diesen Spiegelscherben allein sich selbst; sie wollte
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