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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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ohne dass von Reisekosten die Rede gewesen wäre.

VIER
    Im Nachhinein gibt man gern etwas als zwangsläufig aus, nur um die Verantwortung für sein Handeln verdrängen zu können; unter welchen Umständen jedoch kann man wirklich von Notgedrungenheit reden?
    Wann habe ich aufgehört, Menschen zu zeichnen? Verdrängt, dass ein Modell, wie unser Lehrer mit seiner altväterlichen Art meinte, ein Wesen ist, das erst auf dem Podium Gestalt annimmt: zeigt Respekt davor, habt Demut vor seiner Würde, dem Wunder seiner Wirklichkeit: Humanitas! In einem Akt lässt sich alles ausdrücken, jedes noch so triviale wie sublime Sujet, vom Jüngsten Gericht bis zum Stilleben, in denen alles die uns entsprechende Form gewinnt: die des Menschlichen! Er idealisierte natürlich; denn jeder Akt tilgt etwas vom Körper und unterdrückt die Umstände des Hier und Jetzt zugunsten von Verallgemeinerungen: Narben etwa oder Impfmale – ich schien der einzige, der sie abzeichnete. Warum aber begann ich dann, eben das aufs Blatt zu bringen, wogegen ich mich stets gewehrt hatte, und bloß noch schematische Figuren zu malen – ja nicht einmal dies: nur mehr den Hintergrund des Himmels in seiner unverrückbaren Starre? Totes statt Lebendigem?
    Die Ausrede, mit der ich das Projekt einer Geometrie der Nacht vor mir entschuldigte, bot sich an: wie besser die Stillzeit überbrücken, in der deine Mutter kaum zum Arbeiten kam, um damit dennoch, offen gesagt, mehr zu verdienen als ich? Gedacht war es als reine Fingerübung, das Honorar übernommen von irgendeinem Konsortium – dass man so viel Geld bereitstellte, schien Liebhaberei zu verraten, ein prestigeträchtiges Vorhaben, für das man keinen Dilettanten wollte. So zumindest wurde es mir verkauft, es schmeichelte meiner Eitelkeit in dem Maß, in dem ich mich durch diese Arbeit eines bloßen Kopisten unterfordert fühlte.
    Unseren eigentlichen Beweggründen gegenüber sind wir allzu oft blind; wir erkennen sie erst als Konstellation durch die perspektivische Sicht auf einen Fluchtpunkt. Wahrscheinlich willigte ich in dieses Projekt ein, weil ich damit dachte, diesen in Myriaden von Splittern zerbrochenen Himmel, der mich als Kind so verängstigt hatte, wieder zusammensetzen zu können. Was letztlich aber den Ausschlag gab, war eine uralte ägyptische Sternennacht, deren Darstellung man mir als Probe abverlangte.
    Das Original stammte aus dem Tempel einer Oase; ringsum von Sand umgeben, hatte man sich darin die Vorstellung eines Urgewässers im Nichts ausgemalt, die Zeit, die daraus erstand und die sodann den Erdgott und die Himmelsgöttin Nut zeugte. Als diese beiden jedoch miteinander schlafen wollten, drängte sich der Wind zwischen sie und trennte sie: Nut wurde in die Höhe getragen und beugt sich seither, ihre Glieder ausgestreckt, über ihn, einzig mit Finger- und Zehenspitzen ihn noch berührend, während der Erdgott vergeblich versucht, sich zu seiner Geliebten am Himmel emporzuheben. Das Gebirge zur Silhouette des klagenden Erdgottes geworden, zeichnet ihm die Milchstraße die Kontur ihres Körpers in die Nacht, den Mund und ihren Bauch: Nut ist schwanger von ihm. Die Frucht ihres Leibes jedoch auf die Welt zu bringen ist ihr verwehrt; es gab keinen Monat, in dem du durch den Schoß der Sterne hinab auf die Erde hättest wandern können: er öffnete sich dir erst in den Tagen zwischen den Jahren.
    Deine Zeugung hingegen war eine prosaische Angelegenheit. Nicht, dass es kein Akt der Liebe gewesen wäre: du bist ein Wunschkind. In Erwartung deiner wurde das Glück beinahe greifbar; inniger als je zuvor, ungeachtet der Jahre, die wir bereits zusammen waren, konnten deine Mutter und ich voneinander kaum die Finger lassen. Und unser Begehren wuchs desto mehr, als wir es für jene Tage zurückhielten, in denen deine Mutter fruchtbar wurde, um uns eine Stunde zu suchen, die dann ganz für sich bestand, heil blieb.
    Nach jedem Einsetzen der Periode aber wurde deine Mutter wieder von ihrem alten Ich eingeholt. Bevor die Traurigkeit ganz unerträglich wurde, kam zwar stets die Hoffnung auf den nächsten Monat; schwanger wurde sie dennoch nicht. So zogen wir manchmal in ein Hotel, als könnte uns die Geschichte eines fremden Hauses aufnehmen, oder wechselten die Rollen, ich der Himmel, deine Mutter die Erde, der Wind draußen vor dem Fenster, in der Gasse.
    Manchmal aber hilft Wünschen allein wenig. Am Ende erstand ich auf dem Flohmarkt sogar zwei Fruchtbarkeitssymbole aus Schwarzafrika, einen
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