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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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ihre Schönheit wahrgenommen wissen, mit dem scharfkantigen Glas all jene rund um sie verletzend, die ihr nicht die erwünschte Huldigung erwiesen. Die Liebe, die sie mir schenkte, war deshalb stets abhängig von der Anerkennung ihrer Person, der bezeugten Dankbarkeit für ihre aufopferungsvollen Mühen. Von ihr muss ich wohl die künstlerische Ader haben. So liebte sie etwa das Ballett; sie sparte das Geld von unseren Mündern ab, um einen Stehplatz ergattern zu können, und fuhr dafür weit mit Bus und Zug von unserem Bauerndorf in die Stadt, von der gesetzten Atmosphäre und den Roben der bessergestellten Damen ebenso angetan wie von den Darbietungen. Es war eine Welt, die ihr fremd bleiben sollte, doch gerade deshalb übte sie eine umso größere Faszination auf sie aus: Sie sah darin das, was ihr von Geburt an hätte zustehen müssen, wenn sie in anderen Verhältnissen groß geworden wäre. Ich erinnere mich gut, wie sie vor unserem ersten Fernsehgerät saß, vertieft in einen Schwanensee aus flimmerndem Weiß, und sich dabei die Zehennägel rot anmalte, als mache sie sich für ihren Auftritt bereit.
    Die Liebe, die mir meine Eltern erwiesen, war stets abhängig von der Bewertung meines Verhaltens, zumindest aber von der Erfüllung der Gebote und meinem Gehorsam. War mein Vater zufrieden mit mir, warf er mich hoch in die Luft; als Gedächtnisrest geblieben ist mir das Gefühl eines schier endlosen Sturzes, gebannt in der Angst vor dem Aufprall.
    Warum zählte ich dann, ohne zu überlegen, wenn ich dich endlich in meine Arme schließen durfte, bis drei und ging leicht in die Knie, um dich ebenso in die Luft zu werfen, so hoch ich konnte, damit du mir wieder in die ausgestreckten Hände fielst, jauchzend, deine Augen groß, als sollte es nie aufhören, und noch mal und noch mal?
    Und dann höre ich die Reifen auf dem Kies knirschen. Kim sieht zum Fenster hinaus und fährt sich durch die Haare, die Tür eines schwarzen Geländewagens schnappt auf und der Verleger steigt aus, Sandalen, scharf gebügelte Faltenhose samt roten Trägern, um sie über dem Bauch zu halten, ein kurzärmeliges blaues Hemd und ein Kopf voller ergrauter und kurz gehaltener Locken. Er winkt herauf und sein Blick bleibt an Kim hängen, überrascht.

DREI
    Du kennst meine Geschichte nicht, du weißt nur um ihr Ende. Deshalb muss ich dir alles andere erzählen: den Anfang und das, was zwischen uns liegt.
    Ich zucke immer noch zusammen, wenn ich Terpentin rieche; der bittere Geschmack von nassem Gips am Gaumen genügt, die Zeit stillstehen zu lassen und mich über die Sägespäne zu meinem Platz gehen zu sehen und die Utensilien auszupacken, um dem üblichen Geplänkel zuvorzukommen. Die Modelle sind meist schon vor uns da, verschwinden mit ihrer Tasche in der Toilette, um sich auszuziehen und einen Bademantel überzustreifen, den sie von irgendeinem Hotel haben mitgehen lassen: an seiner Zerschlissenheit erkennt man, wie lange sie im Gewerbe sind, wie gut sie inzwischen zu posieren verstehen. Männliche Modelle habe ich stets gerne gezeichnet; sie stellen ihre Makel offener aus, scheinbar unbekümmert, als wollten sie so genommen werden, wie sie sind. Jede Eitelkeit wirkt bei Bauch und schlaffen Muskeln verräterisch; ich zeichne sie dann wie unter einer 200-Watt-Birne, bar jeder Attitüde und Grazie, das Genital feist in der Mitte.
    Für die Arbeit unbrauchbar sind eher die Exhibitionisten und die gelegentlichen Stripperinnen, die glauben, sich ein leichtes Zubrot verdienen zu können. Sie zögern das Entkleiden so lustvoll hinaus, wie sie dürfen, nur um sich dann von einem letzten Bekleidungsgegenstand nicht trennen zu können, dem Wunschband ums Handgelenk, einem Kettchen am Fuß; so wie man sich bei keinem Striptease je zur Gänze entblößt, bleibt bei ihnen immer noch irgendeine glitzernde Schleife als Kitzel. Nicht, dass ich keine Erregung verspürt hätte, wenn uns eines der Mädchen Musch und Arsch hinhielt, um herausfordernd Blickkontakt zu erzwingen. Zeichnen jedoch hat wenig damit gemein: obwohl es sich die Modelle zum Objekt macht, bildet es keine Lust ab.
    An diesem Tag aber kam deine Mutter. Sie hatte das Haar hochgesteckt; Flipflops an den Füßen wegen der Splitter und Reißnägel am Boden, ging sie zwischen uns hindurch auf die Palette, die ihr als Bühne diente, eine umgedrehte Holzkiste der einzige Behelf. Etwas drang von dem Duft der Lotion zu mir, mit der sie sich eingecremt hatte, wie um ihre Nacktheit mit einem
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