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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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der Stirn zwei dunkel hingewischte Striche hinterließ. Erst dann begann ich sie zu malen, wurde sie berührbar, weil sie sich eine Blöße gegeben hatte.
    Zwei Tage später rief ich sie an; ich hatte mir, obwohl dies verpönt war, Namen und Adresse aus der Kartei beschafft. Ich legte mehrmals noch vor dem ersten Klingeln auf, weil ich den Frosch in der Kehle nicht los wurde. Dass sie aber sofort wusste, wer ich war, kaum dass ich meine Ausrede herausgestammelt hatte, fasste ich als Zeichen auf; sie kam mir zuvor und meinte, sie habe nichts dagegen, wenn man ihr den Hof mache. Die Selbstsicherheit, mit der sie das sagte, beeindruckte mich.
    Manchmal ging ich auch in die Modellierstunde, um deine Mutter zu zeichnen. Die Büsten und Torsi waren noch mit feuchten Tüchern bedeckt, damit der Gips über Nacht nicht austrocknete, bis sie abgezogen wurden und mir unfertige Köpfe entgegenstarrten, die an deine Mutter erinnerten, ohne sie zu sein, auf ihre Weise so gleichförmig wie ungetreu. Sie selbst wurde auf dem Podium immer wieder ein Stück weitergedreht, um jedem zumindest einmal den gewünschten Blickwinkel bieten zu können, während sie mir ausdruckslos in die Augen starrte, bis ich mich abwandte.
    Einige kamen mit Schublehren und Zirkeln, um Proportionen auszumessen, und hielten das Lot an ihren Ellenbogen oder das Knie, um einen Kanon zu bestimmen: vom Kinn bis zum Haaransatz ein Zehntel der Figur, von der Nasenspitze bis zu den Brauen ein Drittel des Gesichts, um derart einen vollendeten und verfeinerten Körper auszumessen, als könnte man einem ebenso naiven wie grotesken Wesen Erhabenheit verleihen, als wäre alle Kunst nur darauf ausgerichtet, idealisierte Doppelgänger zu erschaffen, ihre obsessive Schönheit ein Abbild von Unsterblichkeit – während ich die Schlagschatten festhalten wollte, jeder Makel das Symbol von etwas Menschlichem.
    Und so stand deine Mutter da, in der Pose von Praxiteles’ Aphrodite, den Oberkörper leicht gedreht, eine Hand gekuppt vor ihrer Scham, in eine unsichtbare Ferne blickend. Sie bot sich offen allen Seiten dar, als wäre sie sich der Legende um diese Statue bewusst, in die sich jemand einst so sehr verliebt hatte, dass er sich nachts im Allerheiligsten versteckte, einen milchigen Fleck als Zeichen der Lust auf dem Marmor zurücklassend. So zumindest ist es überliefert. Und ja – dieser jemand war ich, ohne zu ahnen, wie diese Geschichte enden würde.
    Vielleicht wirst du später einmal sagen können, was an deiner Natur von mir und was von deiner Mutter stammt. Von der Leere jedenfalls, die sich in unserem Spiel des Sichentziehens auftat, von all den dabei bloßgelegten Schwächen, hast du nichts: Ich spürte stets Stärke in dir, eine Lebenskraft, die nie zerstörerisch wurde, die sich treu blieb, selbst in der Widerspenstigkeit, bevor du dich schließlich meiner Umarmung ergabst. Du hast dich gern verausgabt, nur um müde zu werden; jedes Spiel mit dir war ein lauter Schaukampf, auf allen vieren, rennend oder Grimassen schneidend. Aber wir wussten beide, wann es genug war, lagen dann atemlos Wange an Wange und sahen zur Decke hoch. Mag sein, dass diese Eindrücke trügen. Denn schlägst du mir nach, frisst du gleichfalls alles in dich hinein, nur um dein Gesicht nach außen zu wahren.
    Unsere letzten drei Jahre durfte ich dich anfangs während der Stunden sehen, in denen deine Mutter ihrer Arbeit nachging – bevor sie irgendwelche Kunststudentinnen als Babysitter einstellte, um dich mir nicht anvertrauen zu müssen. In meinen Stunden aber zeigtest du dich voll ungebrochener Neugier, scheinbar unerschütterlich. Schlugst du deine olivingrünen Augen auf, warst du sofort wach, als hättest du gar nicht geschlafen; stolpertest du auf einer Stufe, nahmst du sie wieder und wieder; und wenn du müde wurdest, hast du dich einfach zur Wand gedreht, deinen Arm um mich schlingend, damit ich nicht fortginge. Und manchmal standest du vor mir, mit den Schultern zuckend, als machtest du dich selbst über deine Stummheit lustig.
    Liebe sucht stets nach der eigenen Erfüllung; bei mir war es dein Geruch, von dem ich nicht genug bekam: du rochst einmal wie ein gerade vom Stamm gebrochener Ast, das Harz noch klebrig, dann wie der Schnee vor dem Frühling, Harsch und Firn in der Sonne, ich erfüllt davon, glücklich an dich gedrückt.
    Du schliefst sogar auf meinem Arm, wenn ich umherging, warst geborgen und dabei alles andere als hilflos – was mir der einzige Trost ist. Trotz
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