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Quarantäne

Quarantäne

Titel: Quarantäne
Autoren: Greg Egan
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    Einen Klienten, der mich im Schlaf anruft, darf man getrost als paranoid bezeichnen.
    Nun ja, kein Mensch möchte, daß ein heikles Thema an einem gewöhnlichen Videophon abgehandelt wird. Selbst wenn es keine Wanzen im Zimmer gibt, so entstehen doch bei der Umwandlung des codierten Signals in Bild und Ton elektrische Streufelder, die noch einen ganzen Block weiter zu empfangen sind. Die meisten Menschen geben sich aber mit der üblichen Lösung zufrieden: eine kleine Modifikation des Gehirns, die es in die Lage versetzt, die Decodierung des Signals selbst vorzunehmen und geradewegs an die Seh- und Hörzentren weiterzuleiten. Mit dem Modul, das ich benutze, nämlich Chiffre (von NeuroComm, fünftausendneunhundertundneunundneunzig Dollar), kann man dem Anrufer sogar antworten, ohne tatsächlich zu sprechen: Ein virtueller Kehlkopf sorgt für optimale Sicherheit in beiden Richtungen.
    Sollte man meinen. Doch auch das Gehirn hat seine kleinen, feinen Streufelder. Man nehme also einen supraleitenden Detektor – kaum größer als eine Schuppe im Haar –, hefte ihn dem Opfer unbemerkt an die Kopfhaut, und schon ist man im Bild. Problemlos lassen sich so die Nervenimpulse verfolgen, die bei dieser Art von >Ersatz<-Wahrnehmung durchs Gehirn wandern, und ebenso problemlos in die entsprechenden Bilder und Töne übersetzen.
    Daher also Dreamer (von Axon, siebzehntausendneunhundert Dollar). Es dauert einige Zeit, bis die nötigen Vorarbeiten für dieses Modul erledigt sind; aber wenn so nach sechs Wochen das individuelle Schema erst einmal feststeht, nach dem das begriffliche Denken in Nervenimpulse umgesetzt wird (und umgekehrt), dann ist man auf die Sinnesorgane und ihre Vermittlertätigkeit nicht länger angewiesen. Was der Anrufer einem zu sagen wünscht, das weiß man einfach, ohne daß man überhaupt einen Sprecher – ob virtuell oder nicht – vor sich sieht und hört. Auf dieser Ebene der Gehirntätigkeit kann, unter normalen Umständen, von einem Abhören keine Rede mehr sein. Natürlich gibt es einen Haken an der Sache: Die meisten Menschen finden es im Wachzustand höchst störend, wenn sich fremde Gedanken einfach so in ihrem Bewußtsein kristallisieren – manche nehmen sogar Schaden daran. Deshalb sollte man besser schlafen, wenn man auf diese Weise telefoniert.
    Mit Träumen hat es, trotz des Namens, nichts zu tun; ich wache einfach auf und weiß es:
    Laura Andrews ist zweiunddreißig Jahre alt, einhundertsechsundfünfzig Zentimeter groß, fünfundvierzig Kilogramm schwer. Kurzes, glattes braunes Haar, blaßblaue Augen, lange, schmale Nase, anglo-irischer Typ. Sehr schwarze Haut. Wie bei den meisten Australiern mit ungenügender UV-Toleranz hat man auch ihren Genen etwas nachgeholfen; nun läßt die Melaninproduktion in der verdickten obersten Hautschicht nichts mehr zu wünschen übrig.
    Laura Andrews leidet an einem schweren, angeborenen Hirnschaden. Sie kann gehen, sie kann essen, aber sie kann weder sich nicht mitteilen noch irgendetwas von dem verstehen, was man ihr sagt. Die Ärzte sagen, daß sie von ihrer Umwelt wenig mehr wahrnimmt als ein sechs Monate altes Baby. Seit ihrem fünften Lebensjahr ist sie Patientin am hiesigen Hilgemann-Institut.
    Vier Wochen ist es her, daß ein Wärter ihr ständig verschlossenes Zimmer öffnete, um das Frühstück zu bringen, und feststellen mußte, daß sie verschwunden war. Man suchte im Gebäude, dann auf dem Gelände und rief schließlich die Polizei. Die suchte noch einmal, auch in der weiteren Umgebung, klopfte an alle Türen, um die Anwohner zu befragen – vergebens. In Lauras Zelle fand sich kein Hinweis auf ein gewaltsames Eindringen, auch die Überwachungskameras hatten nicht die geringste Besonderheit aufgezeichnet. Die Polizei verhörte das Personal lange und gründlich, aber es fand sich niemand, der unter der Last eines etwaigen schlechten Gewissens zusammenbrach und gestand, das arme Mädchen weggezaubert zu haben.
    Vier Wochen später noch immer keine Spur. Keiner, der sie gesehen hatte. Keine Leiche. Keine Lösegeldforderung. Die Polizei hatte den Fall offiziell noch nicht zu den Akten gelegt, doch schien alles getan. Man konnte es nur noch mit Abwarten probieren.
    Manchmal ergab sich etwas beim Warten.
    Meine Aufgabe soll sein, Laura Andrews zu finden und sicher ins Hilgemann-Institut zurückzubringen – oder wenigstens ihre Leiche zu finden –, sowie die nötigen Beweise zu besorgen, um die Verantwortlichen vor Gericht bringen zu
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