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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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H’s; ich hörte das Fragende, Trotzige, manchmal Tröstende heraus. Du warst nicht stumm, nein: verstummt.
    Alle Mütter reden offenbar mit ihren Kindern einen Ton höher und singen; deine jedoch kannte, zumindest vor mir, nur noch diesen abgehackten Tonfall, der hart auf allem bestand, herrisch fordernd, vorwurfsvoll. Dass ich alles schweigend schluckte, änderte nichts, sie ließ deswegen nicht ab davon, obwohl du alles mitanhören und mitansehen musstest. Hast du dich deshalb geweigert, deiner Mutter Sprache zu sprechen? Die Schuld an deinem Mutismus, wie die Ärzte es nannten, gab deine Mutter natürlich mir und meinem schädlichen Einfluss, der dich hindere, richtig sprechen zu lernen.
    Was sie dich dagegen lehrte, war, den Schnuller in den Mund zu stopfen; obwohl sie dir längst nicht mehr die Brust gab, solltest du weiter an einem Nippel saugen. Weil ich ihn dir wieder abnahm, hatte ich schließlich eine ganze Sammlung davon, in den verschiedensten Ausführungen und Farben. Irgendwann einmal jedoch legten du und ich sie in eine Schachtel; ich knüpfte ein rotes Band darum, grub ein Loch im Garten, du warfst sie hinein, und während wir einen Kriegstanz um dieses Grab vollführten, streutest du mit deinen kleinen Händen Erde darüber. Du wusstest genau, worum es ging.
    Ich drängte dich nicht, erwartete und verlangte wenig, lobte dich viel, und merkte, dass wir vor allem beim Spielen an den Anfang einer Sprache kamen, die mit Ausrufen begann, Stoßseufzern, Lustschreien, dem Stöhnen eines Körpers, der sich verausgabt und um Atem ringt… Wenn du toben konntest, warst du frei; du warst gerne auf der Schaukel, sprangst lieber noch auf dem Trampolin und hattest es am liebsten, wenn ich dich in die Höhe warf: als würde dich das von einem inneren Druck befreien.
    Du warst das schweigende Kind. Ich bildete mir ein, dass du stumm bliebst, weil du nicht die Sprache deiner Mutter benutzen wolltest, keines der Wörter, die durch ihren immer schriller werdenden Ton verzerrt wurden. Deshalb suchte ich nach anderen, eigenen, erfanden wir uns eine Sprache, gleichsam einen amazonischen Dialekt – und miteins wurden auch für mich die Dinge anders, begann ich sie so zu sehen wie du; sie wurden runder, lagen mir in der Hand, ich konnte sie fast anfassen, war mitten unter ihnen mit dir. Brot nannten wir ›bek‹ und das Auge ›spu‹; ›pata‹ war für dich ein Mann, aber auch Warmes und Weiches, ›noa‹ alles Duftende – es entstand ein ganzer Dschungel aus Worten, grün und schattig, ich saß auf einem entwurzelten Stamm, du auf meinem Knie, und wir benannten, was wir ringsum sahen: flatternde und kreischende Paradiesvögel, die Blätter der fleischigen Orchideen, jeder Laut eine weißliche Blüte.
    Dieses Bild malte ich mit breiten Pinselstrichen von uns beiden, dein feuerfuchsfarbenes Haar, dein Kopf leuchtend in ursprünglicher Unschuld, wir beide in einem erträumten Garten Eden, von dessen Blätterdach der Regen immer zur selben Nachmittagsstunde auf uns herabfiel, jener, in der ich dich wieder zu deiner Mutter zurückbringen musste.
    In diesem Schauer nahm deine Haut einen goldenen Schimmer an; doch wo ich sonst ein naturgetreuer Maler sein konnte, gerieten mir deine Proportionen seltsam ungelenk, der Ausdruck in deinem Gesicht strenger als bei einem Kind üblich: Nicht dich habe ich gesehen, sondern abgebildet, was ich in dir sehen wollte, worüber mir deine Gestalt misslang. Das Missratene ist bezeichnend: Um dich so portraitieren zu können, wie du wirklich bist, hätte ich selbstloser sein müssen – der Blick unverstellt vom Eigenen, das sich so oft dazwischenschiebt.
    Musterst du mich deshalb so vorwurfsvoll, weil ich das getan habe, was niemand ungestraft tun darf: deine Liebe zu deiner Mutter in Frage zu stellen? Indem ich mich damit im Recht glaubte, habe ich versucht, dich auf meine Seite zu ziehen, eingefordert, was einem nur geschenkt werden kann, und dadurch das einzig Heilige verraten. Meine Selbstsucht war nicht geringer als die deiner Mutter, nur anders: auch sie hat dich zweigeteilt. Und nirgendwo ist meine Eifersucht deutlicher als in diesem Bild: sie ist es, die deine Züge so verzerrt.

ACHT
    Für einen Körper zieht man Linien, die so gewöhnlich sind wie unsere alltäglichen Wörter, umrandet man sie mit Kohle oder Rötel; für das Fleisch jedoch bedarf es der Farbe.
    Die Hand ist klüger als das Auge; das habe ich bereits bei deiner Mutter gemerkt. Was ich an ihr mochte, wenn sie
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