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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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meisten Lampen ausgebrannt, die Wände schwarzschimmlig bis zur hohen Decke. Ohne weitere Anstalten trat Milan in ein schmales Büro. Ein billiger Schreibtisch, eine Untertasse voll zerdrückter Kippen, ein ausgemergelter Mann im schwarzen Rollkragenpullover dahinter und ein gusseiserner Tresor; nur die verblichenen langen Vorhänge und das gerahmte Portrait des Staatspräsidenten glänzten.
    Stumm, doch äußerst formell wurde mir der einzige Stuhl angeboten. Der Offiziant holte ein Register aus der Schublade und füllte sorgfältig die obersten Zeilen mit roter Tinte aus, zog mit dem Lineal einen Strich und richtete sich mit steifem Rücken wieder auf. Dann werkelte er am Rad des Panzerschranks, holte einen schwarzen Aktenkoffer aus Plastik heraus und legte ihn auf den Tisch. Er drehte das Register um, schob es mir zu und legte einen Kugelschreiber daneben. Ich zögerte. Das gab mir Zeit, die sechsstellige Zahl, die ich da geschrieben sah, in Euro umzurechnen; es kam eine ganz ordentliche Summe heraus, mehr als ausreichend für die Druckkosten und mein Honorar. Milan griff sich den Koffer, ohne ihn zu öffnen. Alles schien abgesprochen, ich drehte mich um zu ihm, er nickte zustimmend, also unterzeichnete ich.
    Unten auf der Straße gingen wir wieder zurück zu unserem Parkplatz. Kaum ums Eck gebogen, drückte Milan mir jedoch den Koffer in die Hand und lief los. Wie angewurzelt klammerte ich beide Hände in einer lächerlichen Geste um die Aktentasche, während ich ihn auf der anderen Seite einen Passanten stellen und am Hemd packen sah; ein paar schnelle Armbewegungen und der kleine, schwarzhaarige Mann hielt sich schreiend den Kopf. Dann kam Milan langsamen Schrittes zurück. No worry, meinte er und pochte auf die Tasche, die ich weiter an mich presste.
    Als wir schließlich im Auto saßen und uns wieder in den Verkehr einreihten, lehnte der Misshandelte an einem blauen Fiat; er drückte eine Hand auf das linke Ohr, Blut ihm über die Wange laufend, die Hemdschulter bereits getränkt davon. An ear for a… zrcalo, meinte Milan wegwerfend. …Seitenspiegel, übersetzte ich mir im Stillen.
    Wie hatte ich den Hundsstern gemalt? Am Himmel ist er der hellste Punkt, eisig weiß. Dennoch war er stets der rote Stern, rot wie der Rost, der nach seinem Aufgang die Ähren befiel, rot wie das Fieber, das sein Niedergehen brachte, rot wie die Wolfswut, die er verursachte. In der Nacht vor meinem Fenster in changierenden Farben flackernd, beginnt er erst an der Kammlinie bronzen zu funkeln; dennoch gleißt er weiter weiß durch alles Rot.

ZEHN
    Schau, die Plejaden: ursprünglich ein Sieb, durch dessen Löcher die Nacht einsickerte, hat man in ihnen auch eine Handvoll Saatkörner, eine Taubenschar oder ein Segel erkennen wollen. Und obwohl mit freiem Auge bloß sechs Sterne zu erkennen sind, heißen sie überall Siebengestirn: der siebente bist du.
    An die ersten Wochen mit deiner Mutter entsinne ich mich nur undeutlich. Was jede Erinnerung überlagert, ist ein blaues, breit abgegriffenes Samtband auf dem chinesischen Kästchen am Bett, daneben eine spiralförmig aufgerollte Schmuckschnur aus feinen Messingdrähten, eine Stearinkerze und ein kleines Fläschchen aus braunem Glas mit einem schwarzen Drehverschluss, das Wundalkohol enthielt. Das meiste aber ist eher verschwommen: vielleicht noch das Bild des Bistros, wo wir mit den Arbeitern mittags an einem rotkarierten Tisch saßen.
    Ich habe den Rest verdrängt, weil alles für mich auf diese, wie soll ich sagen, Utensilien fixiert war. Denn kaum dass wir mehr voneinander kannten als den Geruch und Geschmack unserer Körper samt den wenigen Einzelheiten über unsere Familien, bat mich deine Mutter – nein, es war keine Bitte; sie forderte mich geradeheraus dazu auf, meine Bereitwilligkeit wie selbstverständlich voraussetzend: nachzuhelfen. Und ich wusste sofort, was sie meinte.
    Assiste-moi, hatte deine Mutter gesagt und mir die Innenseite ihres Armes hingehalten. Dieser Moment samt dem Blick ihrer Augen entschied über alles. Ich kann nicht sagen, dass ich einwilligte, weil ich insgeheim eine Lust gespürt hätte, die ihrer vergleichbar gewesen wäre; vielmehr war es Neugierde, Überraschung, das Unerwartete. Ich habe all die anderen, zweifellos glücklichen Erinnerungen verdrängt, weil mich das, was sie immer öfter von mir erwartete, zunächst anwiderte und es Zeit brauchte, bis ich es aus Liebe zu ihr tun konnte. Sie dagegen brauchte es, um loszulassen, ihre Haut
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