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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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uns Modell stand, war ihr Auftreten, dass sie kein Make-up nötig hatte, scheinbar uneitel war in ihren Kleidern: sie hingen an ihr herab, zu weit, untailliert, nur drapiert, um etwas zu verhüllen. Der Ton ihrer Haut aber war nicht weiß, nicht rot, noch gelb, ein unbestimmbares Inkarnat.
    Auf dem Seziertisch werden wir uns alle einmal gleichen, ob Greis oder Mädchen, eine einzige offene Wunde, doch von einer Haut umschlossen, die sich bei jedem Atemzug verändert, unseren Gefühlen anpasst, errötend und wieder erbleichend, als wäre sie die Seele, die sich im Fahlen aufhellt. Auf der Behelfsbühne unserer Klasse versuchte ich sie mittels Farbe zu fassen, vergeblich: kaum mischte ich ein wenig Blau in die milchige Lasur, wurde sie kalt wie Marmor; und das Rot der Alten Meister wandte sich mir beim Trocknen ins Dunkle.
    Und so starrte ich auf deine Mutter, dann wieder auf das entstehende Bild, bis mir die Augen brannten und es mir abseitig vorkam, sogar blasphemisch, diese Vorstellungen eines zu erweckenden Körpers. Er weigerte sich ohnehin, Fleisch zu werden, blieb grau oder pastös weiß, die Leinwand eine porige Epidermis, die die Farbe aufsog und fettig wurde, ohne die Blässe der Haut wiederzugeben; gleich welche Pigmente ich auftrug, ich überzog ihre Blessur nur mit Schminke.
    Irgendwann begann ich deshalb bloß noch Schweiß und Pusteln zu malen, das Schuppige und Schorfige, ihre winzigen Narben und Verletzungen, und darüber wurde sie plötzlich greifbar, zeichnete sie sich auf dem Leinen ab, eine Erinnerung körperlichen Schmerzes, einem Schweißtuch gleich.
    Bis mir etwas richtig bewusst wird, dauert es oft Monate, Jahre, in denen ich wie desorientiert agiere, von scheinbarer Offenheit, doch unschlüssig ob des einzuschlagenden Weges, déboussolé ,wie mein Lehrer sagte: Du drehst dich wie eine Magnetnadel, die sich von allem ablenken lässt; richte doch endlich nach deinem Stift, lass dich von deinem Pinsel führen!
    Als dunklen Kern, so stellte ich mir mein Ich vor: in sich kreisend und voll unzugänglicher Gefühle. Von welcher Natur sie waren, merkte ich immer erst dann, wenn sie ausbrachen: dabei aber wusste ich wirklich die meiste Zeit nicht, was in mir vorging.
    Das merkte deine Mutter. Aber sie glaubte auch, ich hätte etwas von ihr erfasst, etwas unter der Haut, sonst hätte sie mich wohl kaum an sich herangelassen, wäre sie so abweisend geblieben wie bei allen anderen, die ihr nachstellten.
    Aber wie mir das Herz im Halse klopfte, als ich mich das erste Mal mit deiner Mutter traf! Wir hatten uns an den Kais verabredet und gingen, gingen über die Dämmerung hinaus, den Fluss entlang weit in die Nacht, und wenn ich damals glaubte, irgendwie erhört zu werden, mich wie so oft für unwürdig hielt, weiß ich heute, dass mein altmodisches Hofieren die Leere in ihr füllte und sie meine Unsicherheit als Versprechen begriff, ihr alles zu erfüllen.
    Wir sprachen über ihre Eltern, die frühverstorbene Mutter, die bald durch eine alte Bekanntschaft ersetzt worden war, den Vater, einen Änderungsschneider, der sich bis über den Kopf verschuldet hatte, seinen Stolz, im selben Haus wie Gustave Eiffel geboren zu sein, all die Seltsamkeiten einer Familie: wir schritten den Stationenweg unserer Biographien in dem Glauben ab, er würde uns in Freie führen. Und so landeten wir schließlich im Marais, wo sie einen Dachboden bewohnte, den ihr ein amerikanischer Künstler überlassen hatte, der damals hoch im Kurs stand ob seiner Installationen aus Stahl und Neonröhren.
    Es war ein einziger großer Raum, Küche, Badewanne und Klo freistehend darin, ein riesiges Mobile an der Decke und meterhohe Leinwände hintereinander an die Wand gelehnt, die ich mir gleich besah. Reines Informell, nichts Figuratives. Damit konnte man leben, wenn man über einen guten Galeristen verfügte und der Preis der Werke nach dem Quadrat- und Kubikzentimeter berechnet wurde; ein Parvenü, dachte ich mir. Dass deine Mutter für diesen ›Dan‹ kein gutes Wort übrighatte, bestärkte meine spontane Abneigung; mir war klar, dass sie ihm nicht nur Modell gestanden hatte.
    Es war so spät geworden, dass es längst abgemacht schien, dass ich neben deiner Mutter übernachten würde. Keiner von uns zog sich aus, dennoch schmeckten wir uns, tasteten nach der Haut und dem Fleisch unter den Kleidern. Und in diesem lauten Atmen, Mund an Mund, zeigten wir unser wahres Gesicht, hinterließen auf dem Laken einen Abdruck, von jenem Schmerz
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