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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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erzielt hätte; es blieb ein bloßes Bauernopfer. Das eigentliche Geständnis fasse ich hier ab.
    Man ließ also meinen Fall schließlich offen und stellte das Verfahren ein; der Verdacht blieb dennoch an mir haften. Und es ist dadurch, dass ich dich endgültig verlor, erst dadurch. Du wurdest der Obhut der Schwester deiner Mutter übergeben, die mich offen des Mordes bezichtigte und mir jedweden Zugang zu dir verweigerte.
    Angesichts dessen brachte ich es nicht mehr fertig, mich noch einmal aufzubäumen. Ich hatte keine Kraft mehr, keinen Willen; Kim fand mich schließlich in einem Zustand völliger Apathie, dass sie alles regelte, damit mich diese Klinik hier aufnahm. Ich habe es, den Umständen entsprechend, gut; der Blick kann weit über das Vorland schweifen, hinter der Anstalt die Bruchstelle der Schweizer Alpen.

ZWEIUNDDREISSIG
    Dabei sind mir diese Seiten inzwischen zum Tagegeld geworden, mit dem ich meine Leere abstottere.
    Der einzige Beweis, den ich habe, ist der Brief, den ich einen Monat später erhielt. In ihm steckte das Foto deiner Mutter, zusammen mit einer lapidaren Postkarte von Karlovac, auf der in ungelenk geschwungener Schrift stand: Ich hoffe, es hat sich nun alles gebessert; Milan.
    Doch es hatte sich nichts gebessert; und schon bald begann eine Trauerarbeit, die alles in Frage stellte, mein Leben, meine beiden Lieben, meine Familie und Erziehung. Was all das bis dahin miteinander verbunden hatte, stellte sich mir zunehmend völlig willkürlich und illusorisch dar, als Wunschdenken. Ich bin der alltäglichsten Dinge meines Lebens verlustig gegangen; sie wurden mir bei der Einlieferung abgenommen: Schuhe und Gürtel, Hausschlüssel, Telefon, Adressbuch und Geldtasche, selbst die Münze.
    Ich hatte sie an jenem Tag in Kroatien geworfen und mein Schicksal davon abhängig gemacht: Kopf oder Zahl. Dabei war es letztlich ganz egal gewesen, auf welcher Seite sie zu liegen kam: ich wäre so oder so leer ausgegangen. Dass man mir vom Arzt bis zu meinen wenigen verbliebenen Freunden und Bekannten mit Vernunft begegnet, um mich von meiner Paranoia und Selbstmordphantasien abzubringen, hilft nicht. Jeden wohlgemeinten Rat habe ich ausgeschlagen, ihre sogenannten guten Gründe widerlegt, die angebotenen Perspektiven destruiert. Indem ich alle Fluchtlinien ausradiere, suche ich nach irgendeinem Beweis als Gegenprobe zu jener Nicht-Existenz, wie sie sich in meinem kränkelnden Körper zu äußern beginnt: den Punkten vor den Augen, dem Tinnitus im Ohr, Herzrasen, Magenschmerzen, Gliederreißen. Man versucht mir Hypochondrie einzureden; ich aber will eine Bestätigung, dass ich nicht schon zu Lebzeiten tot bin, mehr noch: irgendein Anzeichen von Rettung, Erlösung, Heil.
    Dabei argumentierte ich ebenso sophistisch wie mein Anwalt, nur mit dem Unterschied, dass er bei dem Indizienprozess alles Entlastungsmaterial vorbrachte, während es mich nach einem umfassenden Geständnis drängte. Die Urteilsaussetzung führte bei Gericht wie in meinem Leben zum selben: zu Schweigen. Diese Außerstreitstellung scheiterte jedoch an der Tatsache deiner Existenz: sie erzwang meine Stellungnahme. Denn ob die Eingaben bei Gericht, Plädoyers zu meinen Gunsten vor dem Staatsanwalt oder meine ohnmächtigen Äußerungen hier, sie alle führen zu ein und demselben Urteil: Ich habe kein Recht auf dich. Und bin damit hinfällig.
    So wie das eigene Leben in ein anderes Leben übergeht, löst es sich auch auf, sobald einem dieses andere Leben wieder entzogen wird: das Ich wird ausgelöscht und die Welt schließt sich über einem. Es ist mehr als bloße Kastration: wie weiterleben, wenn ein Kind das einzige mögliche Aufbegehren gegen den Tod ist?
    Worauf sonst könnte sich aller Glaube an ein Jenseits richten, all die Hoffnungen, mit denen man die eigene Angst vor dem Sterben überwinden will? Selbst wenn ich beim Jüngsten Gericht wiederauferstehen würde, wäre das nicht mehr mein Körper, der sich bis dahin in Elementarteilchen aufgelöst hätte, noch wäre es länger mein Ich. Auch das Bewusstsein meiner selbst resultiert erst aus dem Leben, in dem es steht, seinen beständig sich verändernden Formen; es ist nicht mehr als ein hypothetischer Schnittpunkt unterschiedlich einwirkender Kräfte. Einzig in unseren Kindern leben wir fort.

DREIUNDDREISSIG
    Tage des Schreibens. Dennoch weiche ich immer noch der Frage aus, ob dich diese Aufzeichnungen auch erreichen sollen, oder ob sie nicht besser ein Irrläufer blieben.
    Mein Vater
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