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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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gewordener Vater überlegte lange und meinte schließlich, dass auch dies nach Beichte und Sühne verlange. Denn es gäbe nur eine Sünde: das Gute nicht zu wollen, Erkenntnis nicht zu wollen. Wer das Gute nicht will, hat die Gnade verspielt. Und der Gedanke ist für das eigene Heil bestimmender als alle Taten. Doch was, wenn Schuld das letzte ist, an das man sich noch halten kann? Begehe ich mit diesen Bekenntnissen nun denselben unverzeihlichen Verstoß? Indem ich dir schreibe, was allein für mich bestimmt ist, das zu lesen dir jedoch die Unschuld rauben wird?
    Doch an wen sollte ich sonst meine Zeilen richten? Ist es schrecklicher, nichts über seine Herkunft und diesen Sündenfall zu wissen, es durch andere und ihre unvermeidlichen Halbwahrheiten zu erfahren, oder sein Leben in einer Leere zu beginnen, die dich nichts außer ihrer selbst lehren könnte? Von beidem aber kann ich dich befreien, indem ich alles auf mich nehme. Ich war schwach: dadurch habe ich zu mir gefunden, dich jedoch verloren. Ein besserer Vater hätte darauf gewartet, dass du zu ihm kommst, von selbst, ganz gleich, wie lange es gedauert hätte.
    Darum geh. Von Reykjavik ist es nicht weit zum alten Thingplatz am Fuß jenes Grabenbruchs, in den der Fluss stürzt. Wenn du einmal dorthin kommen solltest, dann sag deinen Namen. Es genügt, heißt es, ihn zu flüstern; vom Lögberg aus, dem Fels des Gesetzes, soll er weitum zu vernehmen sein. Und dann horch, ob die Stille sich um ihn schließt und sich auf das Gehölz und die Blumen zur Sommersonnwende legt, über den See, der jenen Grabenbruch ausfüllt, wo das Land Jahr um Jahr zwischen den Kontinenten absinkt, um sich irgendwann zum Meer zu weiten. Ich werde dort gewesen sein, ich werde mich aufgemacht haben, dorthin und weiter, auf den Augenblick hoffend, in dem wir uns begegnen.

Sehr geehrte Frau Niklas,
    der Notar wird Ihnen die testamentarische Verfügung Ihres Vaters samt den privaten Papieren und den von ihm gesammelten Artikeln zum Zeitpunkt Ihrer Volljährigkeit aushändigen. Seine Bilder werden nach wie vor von uns aufbewahrt. Ihr Vater verstarb nach längerem Aufenthalt in unserem Sanatorium an den Folgen eines inoperablen Lymphdrüsenkrebses am 24.10.2011. Ich betreute ihn in meiner Funktion als Psychiater, möchte jedoch behaupten, dass Ihren Vater Andreas und mich am Ende eine Art Freundschaft verband. Deshalb gestatten Sie mir ein gewisses Maß an Parteinahme, wenn ich seinen Äußerungen, die Ihnen hiermit übergeben werden, einige begleitende Sätze hinzufüge.
    Soweit mir ersichtlich, war der mit ihrer Mutter ausgetragene Streit um das Sorgerecht das Ergebnis einer m. E. längst nicht mehr zeitgerechten Judikatur. Der betreffende Beschluss ist beigelegt; er gewährte ihrem Vater aufgrund eines kinderpsychologischen Gutachtens ein Besuchsrecht im Umfang von einem Sonntag pro Monat, wobei das Gericht ausführte, »dass dem biologischen Faktum der Vaterschaft, besonders in einer unehelichen Verbindung, kein Anspruch auf ein gemeinsames Sorgerecht zukommt, wie es der Vater anstrebt«. Ihr Vater hat diesen Entscheid zweifellos schwer verkraftet. Was er in seinen Aufzeichnungen schildert, ist jedoch eher dem Zusammentreffen rein akzidenteller Ereignisse zuzuschreiben, deren Konstellation – soweit ich es den Sitzungen mit Ihrem Vater entnehmen konnte – so unvorhersehbar wie zufällig war. Die Folgen wären vielleicht vermeidbar gewesen, wenn Ihr Vater sich in einer besseren psychischen Verfassung befunden hätte.
    Meine Diagnose, die mit jener von zwei weiteren hinzugezogenen Ärzten konform geht, konstatierte zunächst zeitweise geistige Verwirrung und Onirismus als Symptome einer schweren Depression. Im Zuge der Anklage um die Umstände beim Tod Ihrer Mutter führte dies leider auch dazu, dass ein Antrag eingebracht wurde, Ihrem Vater die Mündigkeit zu entziehen; er wurde jedoch aufgrund seines frühen Todes gegenstandslos.
    Was den Tod Ihrer Mutter betrifft, sind auch hier Klarstellungen angebracht. Die polizeilichen Ermittlungen konnten – soweit mir bekannt – weder Spuren fremden Eindringens in ihre Wohnung noch Anzeichen gewaltsamer Einwirkungen oder irgendwelche Abwehr feststellen: man kam damals zum Schluss, dass sich Ihre Mutter zusammen mit Ihnen allein in der Wohnung befunden hatte. Das neben dem Leichnam Ihrer Mutter gefundene blaue Band war die Erfindung eines einzelnen, sensationsgierigen Journalisten, der damit vorgeben wollte, das Fehlen von
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