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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind
Autoren: R Schrott
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von Geröllfeldern und Flüssen, vom Hochland bis zur Rauchbucht, der Hauptstadt, in der es sogar etwas von unserem amazonischen Urwald in einem Gewächshaus gibt, Orchideenblüten mitsamt Bananen, Regen aufs Glasdach prasselnd.
    Wir hätten diese Sprache vernommen und uns an unsere ureigene erinnert, an die Worte, mit denen wir die Welt zum Sprechen brachten, in den paar Stunden, wo sie unser war. Wir hätten hinter jedem Stein nach Trollen und Elfen Ausschau gehalten und die Geschichten gehört, die über dieses Land der Lava und des Meeres gesponnen wurden, das Garn, mit dem sich die Menschen an einen Ort knüpfen, ein Netz, in dem sich auch Sterne fangen lassen, als wären sie die Augen der Fische im Meer der Nacht, und hätten das Irrlicht der Sonne beobachtet, eine jeden Anfang ankündigende Aurora.
    Und dann wären wir nach Ísafjörður gefahren; auch ich habe längst davon gelesen, meine Ansichten von dieser bunt zusammengewürfelten Stadt gesammelt, von den gelben und grünen Holzhäusern auf ihrer Sandbank; brauchte man Platz, wurde einfach ein weiterer Streifen aufgeschüttet, sodass die Halbinsel mittlerweile beinahe von einem Ufer dieses Eisfjords zum anderen reichen soll. Wir hätten das Fischereimuseum im alten Hafen besucht, die davor ausgelegten Salzfische gesehen, Schwanenflügeln gleich, und abends an einem Tisch draußen blind von der Speisekarte bestellt und in Molke gesäuerte Widderhoden gegessen oder einen tranigen Papageientaucher mit süßem Roggenbrot, die kahlen Rippen der Berge gegenüber rot im späten Abend aufleuchtend. So hätte ich das, was ich bloß von den schwarzweißen Fotos im Islandbuch meines Vaters kannte, in Farbe gesehen, all das, was mein Name mir jemals an Ferne verhieß, um dir sagen zu können: schau, all dies hier bist auch du. Und mehr. Das Eis in deinem Namen ein Spiegel für etwas, für das man dort noch neunundneunzig weitere hat.
    Und wenn es Winter gewesen wäre, hätten wir vielleicht die Eisberge singen gehört, das weit sich ausbreitende, dunkle Sirren ihrer Wände, in Schwingung versetzt von dem durch die blauen Tunnel und Risse gepressten Meer, um als geisterhaftes Lied an unsere Ohren zu dringen. Wir wären so lange geblieben, bis wir auch einen Eisbären gesehen hätten, und dann weiter nach Spitzbergen gefahren, dorthin, wo des Luftschiffers Andrée leichtfertige Fahrt in den Norden begann.
    Wovon hätten also die Eisberge gesungen? In Grönland erzählt man die Geschichte einer Frau, die nach einer Fehlgeburt fort von ihrer Familie lief. Als sie schon fast am Erfrieren war, sah sie ein Iglu, in dessen Eingangstunnel Felle lagen: sie ging hinein und blieb dort, wo die Eisbären menschliche Gestalt haben. Der größte unter ihnen zog sich jeden Morgen sein Fell über, um auf die Jagd nach Robben und Fischen gehen zu können, und brachte ihr seine Beute. An manchen Tagen aber sehnte sie sich nach ihrer alten Familie. Als sie sich nicht mehr von einem Besuch abbringen ließ, warnte sie der Bär: Sag niemanden etwas von uns. Doch kaum umarmte sie wieder ihren Mann, konnte sie nicht an sich halten und flüsterte ihm aufgeregt ins Ohr: Ich habe Bären gesehen. Und das ganze Dorf zog los mit Schlitten und Hunden. Der Bär sah sie kommen und biss seinen Jungen das Genick durch, weil er sie nicht in die Hände der Männer fallen lassen wollte; dann stürmte er auf allen vieren hinaus und packte die Frau, die ihm untreu geworden war. Die Jäger vermochten sie nicht zu beschützen, obschon sie ihn mit ihren Hunden umstellt hatten, denn miteins begann alles ringsum zu leuchten, und der Bär entwischte ihnen, indem er zum Himmel emporstieg. Die Männer merkten, dass auch sie den Boden verloren, und setzten ihm nach, ihre Schatten immer größer, immer weiter und dunkler unter ihnen. Seitdem wird Orions Gürtel ›drei Läufer‹ genannt und der Aldebaran ›Eisbär‹; unser Kleiner Bär dagegen heißt bei den Inuit Nuuttuittuq, der ›Unbewegliche‹: der Polarstern, der du mir geworden bist.
    Ich entgehe mir ebenso wenig wie meinem Gewissen; ich lebe schon zu lange im Bewusstsein meiner Schuld am Tod deiner Mutter, den ich mir gewünscht hatte, herbeigesehnt mit allen Fasern meines Ichs. Als Kind fragte ich einmal meinen Vater, ob bereits der Gedanke an eine Sünde genüge, um schuldig zu sein, ob allein der Glaube ausreiche, unrecht zu tun, ohne dass es sich hernach jedoch wirklich als Verstoß gegen die Gebote und Strenge Gottes herausstellte. Mein gebrechlich
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