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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir
Autoren: Hanif Kureishi
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Baumstämmen, und dazwischen falsch geschriebene Wörter.
    Wir fuhren über die Hammersmith Bridge und den eleganten, breit dahinströmenden und in der Morgensonne glitzernden Fluss und dann auf der Busspur nach Barnes, vorbei an Spielfeldern, den Häusern wohlhabender Bürger und einem Naturschutzpark. Bei diesem spätsommerlichen Wetter war London wunderschön. Die weiträumigen Grünflächen und der nahe Richmond Park verliehen Rafis neuer Schule etwas von einem idyllischen Ghetto.
    Wir blieben vor dem Tor stehen. Ich sagte ihm, dass ich mir wünschte, auch eine solche Schule besucht zu haben, denn in meiner sei es grob, oft sogar gewalttätig zugegangen, und die Lehrer seien hoffnungslose Nieten gewesen. Trotzdem war ich mir im Nachhinein nicht sicher, ob ich auf die Erfahrung dieser harten Realität hätte verzichten mögen.
    Rafi rannte los, weil er befürchtete, ich könnte ihm ein weises Wort mit auf den Weg geben oder sogar versuchen, ihn zu umarmen und abzuknutschen.
    »Danke, Dad. Bis später.«
    Um Rafis Schule bezahlen zu können, nahm ich neue Patienten an und begann, Notizen für mein Buch über die »Schuld« zu machen. Ich freute mich schon auf die Recherche, allerdings nicht im Lesesaal des British Museum, an den ich mich mit gemischten Gefühlen erinnerte, sondern in der neuen British Library in King's Cross.
    Ich schrieb nicht mehr über Ajita, denn die Wirklichkeit hatte mich von meinen Phantasien geheilt, doch ich besuchte sie an einem Sonntaggmorgen. Sie lag immer noch in einem abgedunkelten Zimmer im Bett und trank Champagner oder was auch immer es sein mochte. Angeblich war der Champagner gut für ihren rauen Hals. Sie konnte kaum reden.
    »Möchtest du mit jemandem sprechen?«, fragte ich. »Musst du etwas loswerden?«
    »Aber sicher«, erwiderte sie. »Warum hast du mir das nicht früher vorgeschlagen? Was habe ich zu verlieren?« Sie fuhr fort: »Im Grunde kann ich gar nicht mehr nach draußen. Das Haus wird langsam zu meinem Bunker. Außerdem gibt es drei Männer - dich, meinen Bruder und meinen Mann -, die mich kontrollieren wollen. Ich möchte meine Kinder für ein paar Wochen hierher einladen. Ich würde auch gern meinen Mann treffen und ihm alles erklären. Aber im Moment bin ich zu schwach.«
    »Ich kenne da eine sehr gute Analytikerin.« »Wäre ein Mann nicht besser?«, fragte sie.
    »Noch nicht.«
    »Ja, stimmt - ich möchte auf keinen Fall einen so blasierten Kerl wie dich, der seine Schweigeminuten ganz genau kalkuliert und einen damit in den Wahnsinn treibt.«
    Ich rief bei meiner befreundeten Analytikerin an, und ein Fahrer brachte Ajita zur ersten Sitzung. Die Analytikerin war Spanierin, Ende sechzig, dünn, elegant und mit Haaren, die ständig die Farbe wechselten. Sie schrieb gute Bücher, war klug und kultiviert - eine Frau, die zuhören konnte.
    Nach der ersten Stunde rief Ajita mich aus dem Auto an und sagte: »Du kennst Anas Zimmer nicht, aber es ist wunderbar. Es gibt Bücher und Bilder und eine Couch mit Decke. Ich habe auf der Couch gesessen - aber ich habe ganz kurz die Füße hochgelegt und den Kopf auf das Kissen gebettet. Ich habe mich dann allerdings gleich wieder hingesetzt, weil ich dachte, dass sie mich nicht mögen kann, wenn sie mich nicht sieht.
    Ist diese Art von künstlicher Liebe nicht schrecklich? Denn ich weiß doch genau, dass sie mich nicht so liebt, wie ich sie liebe.«
    »Paradoxerweise heißt es: Je besser die Analytikerin, desto eher verliebt sie sich in ihren Patienten«, sagte ich.
    »Etwas Seltsameres kann es wohl nicht geben, oder?«, sagte Ajita. »Man verdient seinen Lebensunterhalt, indem man sich verliebt. Das ist doch eine Prostitution der Seele. Oder so, als würde das Innenleben von einem großen Löffel umgerührt werden. Nach der Stunde war ich völlig am Ende und hatte gleichzeitig das Gefühl, sowohl die interessantesten als auch die offensichtlichsten Dinge auf der Welt gelernt zu haben.«
    Einige Sitzungen später erzählte Ajita mir, dass sie jetzt fünfmal pro Woche hinfahre, heutzutage eher ungewöhnlich. Eine tägliche Analyse galt zwar immer noch als »klassisch«, doch zu Freuds Zeiten war Wien eine kleine Stadt, und für wohlhabende Wiener war es kein Problem, zur Berggasse 19 zu gelangen.
    »Ana trug eine kurze rote Jacke, und als ich mich verabschiedet und bedankt habe, habe ich sie gestreift«, erzählte Ajita. »Es ist ein Nerz, Jamal.«
    »Ja«, erwiderte ich. »Sie ist schon speziell.«
    »Ana ist natürlich genau
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